Nicht nur Wladimir Putin weiß, dass man einen Kriegsgrund eben erfinden muss, wenn gerade keiner da ist. Auch George W. Bush band der Öffentlichkeit mit der Mär von Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen erst einen Bären auf, ehe er seine Truppen in den Irak schickte. Volk und Militär müssen schließlich an den Sinn eines Feldzugs glauben, auch wenn dessen Hintergründe kompliziert sind. Unter der Überschrift „Ökonomie der Wahrheit“ definierte der stramm rechte politische Philosoph Leo Strauss eine solche Vorgangsweise als „noble Lüge“ und somit als zulässiges Mittel zum höheren Zweck. Nicht nur George W. Bushs Strategen sind durch die Schule des 1973 verstorbenen, bei uns wenig bekannten illiberalen Denkers gegangen. Als Professor in New York und Chicago prägte Strauss Generationen rechter US-amerikanischer Intellektueller. Bis heute finden sich unter den führenden Köpfen der Republikaner zahlreiche „Straussianer“.
Davon ist jedenfalls der deutsche Schriftsteller und Essayist Karl-Heinz Ott überzeugt. Der Autor mehrerer Romane (zuletzt „Und jeden Morgen das Meer“ sowie „Die Auferstehung“) erhielt für sein Werk zahlreiche Auszeichnungen. Entsprechend viel beachtet ist sein neues Buch „Verfluchte Neuzeit“, mit dem er eine umfangreiche Geistesgeschichte des reaktionären Denkens vorlegt – zumal er darin hoch Brisantes wie den Vormarsch der „Querdenker“ und den Sturm auf Kapitol und Reichstag aufgreift.
Bei den Hörnern der Kapitolstürmer handelt es sich nämlich nur um die Spitzen eines reaktionären Eisbergs, dessen tiefste Schichten bis in die ersten Jahrzehnte der Neuzeit hinabreichen. Wie Ott zeigt, wandten sich schon damals Vertreter des althergebrachten Weltbildes mit aller Macht gegen neues Gedankengut und begründeten eine seither nicht abgerissene Denktradition, die bereits gegen Vorläufer der Aufklärung wie René Descartes Sturm lief. Entsprechend tief schürft Ott, der dabei so manchen unerwarteten Verbindungsstollen anlegt: von Trump über Nietzsche und Heidegger zu Foucault etwa, aber immer wieder auch ganz hinunter bis zum frühen Kampf der katholischen Kirche gegen die Lehren von Spinoza, Locke oder Hobbes.
Otts Essays sind kenntnisreich und anregend, doch hat er sich im Lauf der intensiven Beschäftigung mit den rechten Denkern offenbar auch ein philosophisches Stockholm-Syndrom zugezogen. So bemängelt er an Strauss‘ Umgang mit klassischen Texten: „Dass seine Interpretationen voller Urteile stecken, merkt man oft lange nicht. Zwischen Referieren und Kommentieren sind bei ihm die Grenzen fließend; wo das eine beginnt und das andere endet, lässt sich zuweilen schwer feststellen.“ Nun, nicht anders lesen sich Otts Essays. Ob er die von ihm kritisierten Autoren gerade zitiert, interpretiert oder karikiert, ist über weite Strecken unklar. In einer Passage, in der es um das Verhältnis des Staatsrechtlers Carl Schmitt zur 68er-Generation geht, fällt der Satz: „Vielleicht hätte man es mit den 68ern machen sollen wie mit den Studenten auf dem Tiananmen-Platz.“ Beim flüchtigen Lesen entsteht der Eindruck, es handle sich um einen Gedankengang Schmitts – nur war der zum Zeitpunkt des Tian’anmen-Massakers nicht mehr am Leben.
Unschärfen erzeugt der Autor zudem durch zahlreiche Passivkonstruktionen – von wem etwas behauptet, bekämpft oder bejubelt wird, bleibt oft ungesagt – sowie die inflationäre Verwendung des Pronomens „man“, das sich auch innerhalb eines Absatzes auf verschiedene Personengruppen beziehen kann: „Man hat es mit Turbulenzen zu tun, die weit hinausreichen über periphere Unruhen. Hinter den Mikrophonen stehen nicht mehr die sogenannten Intellektuellen; man bekämpft sie als Repräsentanten einer linksliberalen Elite, die verantwortlich zeichnet für alle Übel der Welt.“ Wer genau hat es mit Turbulenzen zu tun, und wer bekämpft die Intellektuellen?
„Zuweilen lassen sich ganze Bücher auf ein einziges Postulat reduzieren“, meint Ott angesichts des zu bewältigenden Materials noch recht zuversichtlich in einem seiner ersten Kapitel. Vereinfachungen sind jedoch nicht immer Abkürzungen auf dem Weg zur Erkenntnis, sondern führen auch in manche Sackgasse. Nicht jeder rechte Wirrkopf wie Roger Garaudy, der vom kommunistischen Résistance-Helden zum Holocaust-Leugner mutierte, ist es wert, in aller Ausführlichkeit zitiert zu werden. Bei anderen Autoren hätte es hingegen Sinn gemacht, ein paar Seiten mehr zu lesen, ehe man sie in die Schublade der reaktionären Finsterlinge steckt. So macht Ott neben den üblichen Verdächtigen wie Schopenhauer oder Nietzsche auch einige Literaten als rückwärtsgewandte Vordenker dingfest, meist Franzosen. Wenig überraschend begegnet man Namen wie Huysmans und Houellebecq, aber auch Victor Hugo. Der hat im „Glöckner von Notre Dame“ nämlich den Satz geschrieben: „Seit ein jeder veröffentlichen kann, was er will, erstickt die Welt in einem Durcheinander, das sie als Vielfalt verherrlicht.“ Für Ott ist der Fall klar, Hugo will zurück ins Mittelalter.
Dass sich der Autor Hugo zwar in einen mittelalterlichen Menschen hineinversetzen konnte, als Citoyen jedoch ein leidenschaftlicher Verfechter der Revolution und der Republik war, übersieht Ott. Es sind Ungenauigkeiten wie diese, die bei der Lektüre seiner an Material zweifellos reichen rechten Geistesgeschichte oft stutzig werden lassen. Dass man dadurch zum Nachlesen angeregt wird, kann man Ott schon wieder anrechnen. Und immerhin beweist er, dass ein Denken in starren Freund-Feind-Schemata, wie er es mit gutem Grund Carl Schmitt und dessen geistigen Erben vorwirft, tatsächlich keine gute Idee ist.
Georg Renöckl in Falter 11/2022 vom 18.03.2022 (S. 34)