Reportage aus der Süddeutschen vom 15. 10. 2020: https://www.sueddeutsche.de/reise/oetscher-oesterreich-wandern-natur-1.5064572?reduced=true
Kunst am Berg
In der Tiefe rauscht der glasklare Ötscherbach, auf halber Höhe führt ein aussichtsreicher Steig durch die Schlucht. Weit oben, wo sich die Felsen zu bizarren Formationen türmen, stürzt das Wasser über eine teils überhängende Felswand in die Tiefe. Mirafall heißt der Platz, er ist einer der schönsten Niederösterreichs. Und doch laufen in letzter Zeit beim Tourismusbüro im nahen Mitterbach die Telefone heiß, weil sich Wanderer beschweren: Unmittelbar neben dem wildromantischen Wasserfall hängt nämlich seit ein paar Wochen ein riesiges Plakat in der Felswand. Hat man es wirklich nötig, diesen Ort und damit auch unzählige Urlaubsfotos so zu verunstalten?
„Ja, wir wollen uns schließlich in die Selfies der Leute drängen“, erklärt Christoph Steinbrener, einer der Urheber der Misere. Er wirkt sichtlich zufrieden über die Resonanz seiner Arbeit: Der vermeintliche Schandfleck ist ein Kunstprojekt, für das der Bildhauer Steinbrener und seine Kollegen Martin Huber und Rainer Dempf – der eine Architekt, der andere Graphiker – Ende August ein Schild mit der Aufschrift „Tourist Information“ mitten in die Steilwand montierten. „Cliffhanger“ heißt das Projekt, mit dem das Trio einmal mehr den allzu sorg- und achtlosen Umgang mit unserem Lebensraum anprangert. Ursprünglich sollte das Plakat in Tirol hängen, doch der Plan scheiterte an den dortigen Umweltauflagen. Die Ötschergräben waren eine willkommene Alternative, denn: „Hier ist es noch nicht zu spät.“
Im noch nicht übererschlossenen Gebiet des markantesten, wenn auch mit 1893 Metern nur dritthöchsten Gipfels Niederösterreichs können die Zeichen an der Wand noch verstanden und Lehren daraus gezogen werden – gerade in Zeiten der Coronakrise, die viele Gewohnheiten in Frage stellt, aber auch ein ganz neues Publikum in die Berge lockt. Ein Jahr lang wird das Tourismus-Menetekel beim Mirafall und wohl auch im Hintergrund vieler Erinnerungsfotos zu sehen sein, um Wanderer zum Nachdenken über ihren Umgang mit Natur und Landschaft anzuregen.
Auf nach- und mitdenkende Gäste setzt man im Naturpark Ötscher-Tormäuer aber ohnehin: Bei Wienerbruck, wo die von Wien nach Mariazell führende Pilgerroute „Via Sacra“ eine scharfe Kurve macht, dienen zwei 2015 errichtete schlichte Langhäuser aus Holz als „Ötscherbasis“. Hier bezahlt man den Eintritt für den Naturpark und kann sich auf das Gebiet einstimmen. Der kurze Spazierweg zum Basislager führt vorbei an Blumenwiesen, die in Etappen gemäht werden, um Pflanzen und Insekten Lebensraum zu bieten, an jungen Bäumchen, die alte Apfelsorten wie den Annaberger Maschanzker tragen, an Lagerfeuerplätzen und dutzenden kleinen Tafeln mit Fragen, die dem Wanderer hier so kommen könnten: „Was ist ein Naturpark?“ beispielsweise, oder, schon spezieller: „Kann ich hier lernen, wie man Körbe flechtet?“ Auf die meisten dieser Fragen weiß Heribert Pfeffer Antwort. Der pensionierte Berufsjäger und aktive Almhirt gehört zu einem Team von Naturvermittlern, zu denen die Ötscherbasis auf Wunsch den Kontakt herstellt und die ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit ihren Gästen teilen – stets auf Augenhöhe, wie der in praktisches Jägergrün gekleidete, energiestrotzende Pensionist betont. Wiese und Obstbäume sollen Respekt vor den Besonderheiten der Region und den Leistungen der Vorfahren vermitteln, aber ohne falsche Nostalgie oder touristische Verbrämung. „Für Folklore haben wir keine Zeit“, meint Pfeffer trocken, und: „Wir wollen anders sein.“
Er legt neben der Basis gerade einen Sortengarten mit traditionellen Apfelsorten der Region an – schließlich sind wir im Mostviertel, in dem Obstbau große Tradition hat. Die von Heribert Pfeffer gesammelten Apfelsorten sind an die Bedingungen des Ötscherlandes angepasst und weniger süß, dafür aber bekömmlicher als die Konkurrenz im Supermarkt. Früher hat der ausgebildete Obstbaumwart Bäume allerdings öfter umgeschnitten als gepflanzt: In seiner Jugend war er Holzknecht im Ötscherland, dessen Urwälder im 18. Jahrhundert erstmals gerodet wurden, um Wien mit Brennholz zu versorgen. Bis heute ist die Region von den damaligen Kahlschlägen geprägt, auch wenn die Bäume längst nachgewachsen sind: Zur Rodung der steilen Berghänge warb das Stift Lilienfeld, dessen Grundherrschaft bis zum Ötschergipfel reicht, Holzknechte aus dem Gebiet des Dachstein an. Die Schlüsselarbeitskräfte brachten nicht nur ihr Können, sondern auch ihren Glauben mit: Sie waren Geheimprotestanten, sehr zum Missfallen der geistlichen Herren, die den Arbeitsmigranten ihren Lohn wöchentlich erst nach Besuch des katholischen Gottesdienstes in einer eigens dafür errichteten Kirche auszahlten. Die Toleranzpatente Kaiser Josephs II. setzten den Schikanen 1781 ein Ende, wenig später wurde im nahen Mitterbach die älteste protestantische Kirche Niederösterreichs gebaut. Noch heute ist der Anteil der Protestanten an der Bevölkerung mit 30 Prozent für Österreich ungewöhnlich hoch, auch der Dialekt der Gegend ist von den Zuwanderern beeinflusst.
Im längst wieder unbewohnten Talkessel des Vorderötscher, in dem Heribert Pfeffer als ferner Nachfahre der protestantischen Holzknechte den Wald rodete, erinnert heute nur noch ein Gedenkstein an die katholische Zwingkirche. Als „Grand Canyon Österreichs“ wird die Schlucht vermarktet, an sonnigen Wochenenden kann es hier ganz schön voll werden – das Cliffhanger-Plakat wird sein Publikum finden, soviel ist sicher. Wer es nicht beim Wasserfall-Selfie inklusive Kunstprojekt belassen, sondern auch den Gipfel bezwingen möchte, folgt bald nach dem Mirafall der Abzweigung in Richtung „Jägerherz“ – ein Name wie aus Schneewittchen, aber einfach nur der Ort, an dem einst die Hütte eines Jägers namens Herz stand. Nach einem steilen Anstieg führt der Weg an zwei mythenumrankten Höhlen vorbei: Geldloch und Taubenloch, in denen einst sagenhafte Goldschätze vermutet wurden und die seit Jahrhunderten Höhlenforscher anlocken, von denen nicht alle den Weg aus den zerklüfteten und weitverzweigten Höhlensystemen wieder heraus fanden.
„Rauer Kamm“ heißt der Nordostgrad des Ötschers, er ist die Königsetappe zum Gipfel, eine leichte Kraxelei (Schwierigkeitsgrat I) über einen mehrfach abgestuften, relativ breiten Grat. Die Route bietet spektakuläre Aussichten, erfordert allerdings ausreichend Bergerfahrung und vor allem Schwindelfreiheit. Der Gipfel selbst beschert dem Kletterer einen Kulturschock: Der Lift von Lackenhof sorgt für regen Betrieb. Ein kurzer Gedanke an das Cliffhanger-Projekt und die Frage, ob es nicht auf dieser Seite des Berges auch gut aufgehoben gewesen wäre, drängen sich auf. Zum Glück ist die grasbewachsene und aussichtsreiche Kuppe weitläufig und man findet auch an besucherstarken Tagen unschwer ein stilles Plätzchen – und vielleicht sogar einen Enzian, wie einst Carolus Clusius, der Hofbotaniker Kaiser Maximilians II. Er gilt als Erstbesteiger des Ötscher, an dem ihn vor allem die Flora interessierte: Hier fand und erforschte er 1574 den stängellosen Kalk-Enzian, der seither als Clusius-Enzian nach ihm benannt ist. Auch dem Gelehrten wurde das Leben in Österreich wegen seines Glaubens schwergemacht: Der Flame Clusius war Protestant, Maximilians Nachfolger Rudolf II. entließ ihn daher aus kaiserlichen Diensten.Hat man das Ötscher-Schutzhaus und die Sessellift-Bergstation hinter sich, ist man dann meist wieder allein unterwegs. Von hier führt der Weg wieder hinunter in die Ötschergräben und nach Wienerbruck. Wer noch Kraft und Zeit hat, bleibt besser in der Höhe und wandert in einem weiten Bogen immer den Kamm entlang zum Terzerhaus. Hier reicht der Blick vom Ötschergipfel über Mariazell bis zum Dachstein. Zwischen all den gut erschlossenen Highlights: ein Meer kaum bekannter, nicht minder verlockender Gipfel. Wäre doch schön, wenn Steinbrenner/Dempf & Huber Recht behielten – dann wäre es für die noch nicht zu spät.