Ein spät erschienener Artikel zu einem weiteren Jubiläum im Gedenkjahr 2014: Dem des Februaraufstands von 1934. Unendlich weit weg.
Rundgang durch den Wiener Karl-Marx-Hof
Die rote Festung steht noch
Montag, 2. Juni 2014, 11:30
«Körperkultur», «Freiheit», «Fürsorge» und «Aufklärung»: Ein guter Slogan will sich aus diesen sperrigen Begriffen einfach nicht formen lassen. Vielleicht kennt deshalb kaum noch jemand die Bedeutung der vier überlebensgrossen Statuen, die eine der bekanntesten Fassaden Wiens schmücken. «Versailles der Arbeiter» wurde das Gebäude mit seinen Türmen, Fahnenmasten, Torbögen und den markant angeordneten Balkonen einmal genannt, doch einen solchen Vergleich braucht es schon lange nicht mehr: Der Karl-Marx-Hof ist heute – seinem Namenspatron irgendwie zum Trotz – eine bestens etablierte Marke. Als längstes Wohnhaus der Welt und Ikone des «Roten Wien» ist er Fixpunkt jeder Wien-Reise, die mehr bieten will als Sisi und Lipizzaner.
An Geschichte und Architektur interessierte Touristen können mit seiner Symbolik oft mehr anfangen als seine heutigen Bewohner. Von denen halte so mancher «Karl Marx» für den Namen des Architekten des Gebäudes oder gar für einen lokalen Heiligen, erzählt Erna Mörixbauer, eine rüstige Dame mit weisser Dauerwelle. Die standes- und geschichtsbewusste Arbeitertochter wohnt seit ihrer Geburt im Jahr 1929 hier, da war das Haus noch gar nicht fertig. Leicht wehmütig erzählt sie von der Rasselbande Gleichaltriger, die im Hof Völkerball spielte, sich vor dem strengen Hausmeister versteckte und von ruhebedürftigen Mitbewohnern vom Balkon herab beschimpft wurde. Allzu harmonisch dürfte das Zusammenleben auch damals nicht gewesen sein, doch war das Gemeinschaftsgefühl wohl stärker als heute. Und die soziale Kontrolle: Im sozialen Wiener Wohnbau der Zwischenkriegszeit ging es nicht nur um die bessere Lebensqualität der Arbeiterklasse, sondern auch um den Rahmen für ein neues Menschenbild. «Wähler zu gewinnen, ist nützlich und notwendig, Sozialdemokraten zu erziehen, ist nützlicher und notwendiger», sagte Victor Adler, der Gründer der österreichischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.
Kleinbürgerliche Behaglichkeit
Das Vorhaben dürfte nur teilweise geglückt sein: Im idyllischen Innenhof des Karl-Marx-Hofs, in dem akkurat gestutzte Rasenflächen, penibel gepflegte Rosenbeete und von Gartenzwergen bevölkerte Loggien eine etwas kleinbürgerliche Behaglichkeit ausstrahlen, ist von Solidarität oder Internationalität keine Rede. Spricht man Bewohner auf ihre Lebensqualität an, dreht sich gleich alles um «die Ausländer». Eine ältere Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, schimpft beinahe klischeehaft über die schlechte neue Zeit, sie lebe längst in einem «Balkanhof». Dass der schwarzhaarige Mann mit slawischem Akzent, der während unseres Gesprächs am Eingangstor vorbeikommt, freundlich «Grüssgott» sagt, erlebe sie zum ersten Mal.
Ein kräftig gebauter junger Mann in schwarzer Bomberjacke führt zwei massige Hunde an der Leine. Nein, er sei kein Security-Mitarbeiter, lacht Manuel, ein fröhlicher Thirty-Something mit rundem Gesicht und Stoppelglatze, sondern kaufmännischer Angestellter. Er ist zufrieden mit seiner Wohnsituation. Vor ein paar Jahren noch gab es Probleme mit Hooligans, doch die sind inzwischen weggezogen. Irritiert reagiert Manuel nur auf das Stichwort «Rotes Wien». Das stimme so nicht, «wir hier wählen alle FPÖ». Warum? Achselzucken, Lachen, die Hunde wollen weiter.
Manuel spricht für etwa 29 Prozent der Mieter in Wiens kommunalen Wohnbauten, in denen immerhin ein Viertel der Wiener Bevölkerung lebt. Die SPÖ hat hier zwar noch eine absolute Mehrheit, doch die ist mit 57 Prozent längst nicht mehr so üppig wie in vergangenen Jahrzehnten, als bis zu 71 Prozent in Gemeindebauvierteln rot wählten. Heute bekommen die Sozialdemokraten, die nicht ganz zu Unrecht mit «der Stadt» gleichgesetzt werden, jede Unzufriedenheit der Mieter postwendend zu spüren: Als kürzlich einige mit dem Denkmalschutz unvereinbare Fenster und Balkongeländer rückgebaut werden mussten, sei die Wut gross gewesen, erklärt Laurin Rosenberg, ein junger Historiker, der im Mieterbeirat die Interessen der Bewohner gegenüber der Stadt vertritt. Die Frustrierten würden meist gar nicht mehr wählen und die FPÖ so zumindest indirekt stärken. Rosenberg selbst zählt zu den wenigen, die sich nicht nur wegen der grossen Innenhöfe und der guten «Öffi»-Anbindung auf die Warteliste für den Karl-Marx-Hof setzen liessen – ihm war auch die «schöne Adresse» wichtig. Dass seine Nachbarn andere Sorgen haben, weiss er: Zu viele Migranten, Verschmutzung und Lärm, lautet die immer gleiche Leier.
Allem Anschein nach wird dabei auf hohem Niveau gejammert: Nach vollgesprayten Stiegenhäusern, herumliegendem Müll oder anderen Merkmalen städtischer Verwahrlosung sucht man hier vergeblich. Nicht einmal der eine herrenlose Einkaufswagen in einem der Eingänge ist ein Zeichen von Gleichgültigkeit, im Gegenteil. «Der gehört meinem Nachbarn, der ist schon so schlecht zu Fuss und schafft es ohne den Wagen nicht vom Einkaufen nach Hause», erklärt Erna Mörixbauer, der die Familien mit Migrationshintergrund weniger Sorgen bereiten als das Desinteresse ihrer Mitbewohner an sozialdemokratischen Traditionen.
Dramatischer als diese Ignoranz war einst die Böswilligkeit, mit der die Gegner des Roten Wien die Formensprache der Gemeindebauten der zwanziger und dreissiger Jahre interpretierten: Die Polizei gab sich von der «charakteristischen Verteidigungsbauweise» der Bauten alarmiert, die über ganz Wien verteilt waren und einen radikalen Gegenentwurf zur imperial und grossbürgerlich geprägten Stadt bildeten. Die Lüftungsfenster der in den Wohnungen befindlichen WC – ein in den Gründerzeitvierteln inexistenter Luxus – hielten viele für Schiessscharten.
Es fällt schwer, den Zeitgeist zu begreifen, der sowohl die heute so pathetisch anmutende Gemeindebau-Architektur als auch die überzogenen Reaktionen darauf hervorbrachte. Als «Paradoxon des Neben-, Mit- und Ineinanders von tiefer Skepsis und irrationalster Verheissung, von schwärzestem Pessimismus und stürmischem Willen zur Welterneuerung, konservativstem Schönheitssinn und brutalem Ikonoklasmus» versuchte ihn der Schriftsteller Gregor von Rezzori zu fassen.
Wien hatte 1918 den Zusammenbruch einer jahrhundertealten Ordnung, die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten und den Massenexodus einer halben Million Menschen erlebt, die über Nacht zu Ausländern geworden waren. Doch mitten im wirtschaftlichen Niedergang und im identitären Vakuum, das die vertriebenen Habsburger hinterliessen, war auch Platz für die Verwirklichung einer Utopie: 1919 wurde Wien zur weltweit ersten Millionenstadt, in der Sozialdemokraten an die Macht kamen. Sie bauten die Stadt zur proletarischen Metropole um: Dank einer gezielten Umverteilungspolitik schufen sie innerhalb weniger Jahre Wohnraum für über 200 000 Menschen. Heute ist die Stadt Wien, die bis in die neunziger Jahre Gemeindebau um Gemeindebau errichtete, die grösste Hausverwaltung Europas.
Kanonendonner der Macht
Die sozialdemokratische Wiener Stadtregierung befreite nicht nur Zehntausende Arbeiterfamilien aus menschenunwürdigen Wohnbedingungen, sondern sorgte auch für deren «kontrollierte Sozialisation durch eine spezielle Wohnumgebung», so der Historiker Sándor Békési. Von der Wiege bis zur Urne, vom Säuglingswäschepaket bis zum mühsam erkämpften Recht auf die Feuerbestattung begleitete die Sozialdemokratie das Leben der Arbeiter.
Die Hauptstadt wurde jedoch zunehmend als Fremdkörper in einem konservativen Land wahrgenommen. «Wien» und «Österreich» seien nach dem Krieg «diametral entgegengesetzte Begriffe» geworden, schrieb der Feuilletonist Anton Kuh. Die beiden grossen Lager unterhielten paramilitärische Milizen, den sozialdemokratischen Schutzbund und die christlich-soziale Heimwehr. Im Februar 1934 widersetzten sich einige Einheiten des mittlerweile verbotenen Schutzbundes gewaltsam ihrer Entwaffnung. Kanzler Dollfuss liess die «rote Festung», als die Wien der Heimwehr galt, stürmen: Feldkanonen des Bundesheeres feuerten 640 Granaten auf die grösseren Gemeindebauten. In den vollbesetzten Wohnhäusern starben Dutzende Zivilisten.
Erna Mörixbauer erinnert sich dunkel an den Kanonendonner in der Nacht. Ein Nachbarskind erlitt einen Lungenschuss. Kurz nach dem Fall des Hofes wurde die Mutter wütend, da der arbeitslose Vater Staub kehrte: Die patrouillierenden Soldaten könnten den Besenstiel für einen Gewehrlauf halten und in die Wohnung schiessen. Später waren die Eltern in der «Roten Hilfe» aktiv, die die Angehörigen untergetauchter, inhaftierter oder hingerichteter Sozialdemokraten unterstützte. Erna überbrachte die Geldbeträge versteckt im «Waschbuch», in dem die jeder Familie zugeteilten Zeiten im Waschsalon vermerkt waren. Offizielle Mission: den Waschtag mit einer anderen Familie tauschen.
Im ehemaligen Treffpunkt illegaler Sozialisten befindet sich heute das Museum «Das Rote Wien im Waschsalon». Hier bekommt man neben handgestrickten roten Topflappen mit den drei Pfeilen auch einen reich dokumentierten Überblick über die Leistungen des «Neuen Wien», wie die Sozialdemokraten ihr Projekt ursprünglich nannten. Plakate, Fotos, Flugblätter, Filme und Alltagsgegenstände lassen die spannungsgeladene Epoche lebendig werden. Sogar einen «roten Kasperl» gab es, der den Wiener Arbeiterkindern erklärte, was ein Streik ist.
Der Sieg des Austrofaschismus bedeutete einen Bruch, von dem sich weder Wien noch die Sozialdemokratie erholen würden. Letztere wollte nach dem Zweiten Weltkrieg zudem keine «Judenpartei» mehr sein: Die ins Exil gegangenen Vordenker des Roten Wien wurden nicht zurückgeholt. Nicht von ungefähr bezeichnen Lili und Werner Bauer, die Gründer und Leiter des Museums, 1934 als das eigentliche Ende der Moderne in Österreich.
So wird im Herzen des so gut verwalteten Gemeindebaus fast schmerzlich offenbar, was es ausserhalb des Museums nicht mehr gibt: Die Utopie, für die der Karl-Marx-Hof einmal stand, ist abhandengekommen. Die steinernen Figuren sind verstummt. Wo früher eine Bibliothek war, ist heute ein Seniorentreff. Auch Josef Franks Beratungsstelle für modernes Wohnen ist längst geschlossen: Der renommierte Architekt wanderte nach dem Sieg der Austrofaschisten nach Schweden aus und entwickelte dort den heute weltweit geschätzten schwedischen Einrichtungsstil mit. Vielleicht erreicht er über diesen Umweg doch noch so manchen der Bewohner des Karl-Marx-Hofes, die längst nicht mehr von einer neuen Gesellschaft, sondern vom Häuschen im Grünen träumen.
Wiener Februargeschichten von 1934
öck. ⋅ Der erste bewaffnete Widerstand gegen den aufkeimenden Faschismus auf europäischem Boden wurde in Österreich geleistet. Im Jahr 1934 erhoben sich Arbeiter in Wien und den oberösterreichischen und steirischen Industriegebieten im «Februaraufstand» gegen das autoritär agierende Regime von Bundeskanzler Dollfuss. Mit dessen Sieg über die Sozialdemokratie begann Österreichs Ende: Gedemütigte Schutzbündler wechselten zu den Nationalsozialisten, die intellektuelle, oft grossbürgerlich-jüdische Elite der Partei floh oder wurde verhaftet.
Im kollektiven Gedächtnis Österreichs seien diese Ereignisse viel zu wenig verankert, schreibt ein darüber merkbar verärgerter Erich Hackl im Vorwort zur Anthologie «Im Kältefieber». Das österreichische Geschichtsbild sei eine «Rückprojektion der eigenen stumpfbürgerlichen Misere», die ausschliesslich zwischen Tätern und Opfern unterscheide. Widerständige und revolutionäre Traditionen blieben ausgeblendet. Das Buch will dieses Geschichtsbild um einen oft übersehenen Erzählstrang ergänzen: die Februarkämpfe von 1934.
Warum dieser Kampf im Debakel enden musste, legt gleich der erste Text der Anthologie offen, Ilja Ehrenburgs schonungslose Analyse der Führungsschwäche der österreichischen Sozialdemokratie. Neben bekannten Namen wie Anna Seghers oder Jean Améry finden sich in der in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragenen Sammlung auch die Texte heute weitgehend unbekannter Autoren. Oft sind es kaltschnäuzig-ironische Nacherzählungen der aussichtslosen Kämpfe, oft sind sie empörend, oft ungelenk, niemals peinlich. Es sind Geschichten von «Menschen und Taten von Würde und von Ehre».
Erich Hackl, Evelyne Polt-Heinzl (Hgg.): Im Kältefieber. Februargeschichten 1934. Picus-Verlag, Wien 2014. 327 S., Fr. 32.90.