Recht brechen.

Die durch ihre unangekündigten Aktionen ausgelösten Verkehrsstaus waren sicher für viele ärgerlich, die immer noch wilderen Bestrafungsphantasien, mit der PolitikerInnen darauf reagiert haben, zumindest befremdlich. Selten hat eine Protestbewegung so polarisiert und emotionalisiert wie die Letzte Generation. Einen rationalen Blick auf die mittlerweile eingestellten Protestaktionen wirft Samira Akbarian, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Frankfurter Goethe-Universität. Auf Basis ihrer 2022 fertiggestellten Dissertation hat sie nun ein lesenswertes Buch über Geschichte und Gegenwart des zivilen Ungehorsams veröffentlicht. Hier meine Rezension dazu auf Ö1/Kontext:

Sie überschütteten Bilder in Museen mit Farbe und klebten sich am Asphalt belebter Kreuzungen fest. Ihr Ziel: Die Regierung zu mehr Klimaschutz zu zwingen. Nach etwa zweieinhalb Jahren, am 6. August 2024, beendeten die Aktivisten der sogenannten „Letzten Generation“ jedoch ihre Aktionen, da sie keine Aussicht auf Erfolg mehr darin sahen. Für viele galten sie zu diesem Zeitpunkt längst als „Klimaterroristen“. Vor laufenden Kameras und Mikrophonen steigerten sich rechte Politiker in immer noch strengere Bestrafungsphantasien hinein. Wie angemessen war diese politische Reaktion auf die neuen Protestformen? Und: Waren diese überhaupt neu? Antworten darauf gibt Samira Akbarian, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Frankfurter Goethe-Universität. Sie stellte gerade ihre Dissertation über zivilen Ungehorsam fertig, als die Aktivisten im Jahr 2022 mit ihren Klebe-Aktionen begannen. Auf Basis ihrer mehrfach preisgekrönten Abschlussarbeit veröffentlicht Akbarian nun das Buch „Recht brechen. Eine Theorie des zivilen Ungehorsams“ in der „Edition Mercator“ des C. H. Beck-Verlags. Georg Renöckl hat es gelesen.

Für einen besonders heftigen Sturm der Entrüstung sorgten Aktivisten der „Letzten Generation“, als sie im März 2023 die am Bundestag angebrachten Glastafeln mit dem Text der deutschen Verfassung mit nach Erdöl aussehender Farbe beschmierten. In der darauffolgenden Debatte beriefen sich beide Seiten auf den Schutz der Verfassung: Die einen sahen sie durch die Protestaktion missachtet, die anderen durch die Regierung. Wer hat recht? Oder anders gefragt: Kann man das Recht verteidigen, indem man es bricht? Samira Akbarian meint dazu:

Mein Vorschlag lautet, dass es angemessen und für die demokratische Auseinandersetzung fruchtbar ist, Aktionen des zivilen Ungehorsams als implizite Rechtsdeutungen aufzufassen – was meist darauf hinausläuft, in diesen Aktionen Interpretationen der hinter den Gesetzen stehenden Ordnung und ihrer Werte zu sehen, wie sie in der Verfassung verkörpert sind.

Argumente für diese auf den ersten Blick provokante These findet Akbarian auf einem langen, bei Sokrates beginnenden Tauchgang in die Rechtsgeschichte. In Anlehnung an Jürgen Habermas kommt sie zu einer für moderne Gesellschaften praktikablen Definition des Begriffs „ziviler Widerstand“: Es handelt sich dabei um eine öffentliche, vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen, die aber den Gehorsam gegen die Rechtsordnung als solche nicht in Frage stellt. Ziviler Widerstand ist gewaltfrei, die Aktivisten stellen sich den rechtlichen Folgen ihres Handelns.

Der zivile Ungehorsam tariert aus, wie weit der Rechtsstaat ein legitimes und sich aus der Verfassung ergebendes Anliegen mit Strafe verfolgt. Dadurch verursachen Aktionen zivilen Ungehorsams aber auch Rechtsunsicherheit auf verschiedenen Ebenen. Indem Aktivist*innen gegen geltendes Recht verstoßen und die öffentliche Ordnung stören, zeigen sie auf, dass es innerhalb der Gesellschaft eben keinen Konsens über die Auslegung des Rechts und der Verfassung gibt: Ziviler Ungehorsam polarisiert.

Das Versprechen der Teilhabe an Gesellschaft, Rechtsstaat und Demokratie gilt jedoch nicht für alle. Illegale Migration wird von Vertretern der postcolonial studies als Akt des Widerstands gegen eine geltende Ordnung gesehen, die für einen großen Teil der Menschheit strukturelle Ungerechtigkeit bedeutet. Doch auch Protestbewegungen wie „Occupy“ oder „Black Lives Matter“ üben eine Form des Widerstands aus, bei der es nicht um die Auslegung der Verfassung geht, sondern um das Aufzeigen von ungleich verteilter Macht.

Das bedeutet, dass der zivile Ungehorsam, indem er die Ordnung infrage stellt, ihr die Möglichkeit gibt, sich zu erneuern und zu verändern. Radikaldemokratisch verstanden, besteht seine Funktion dann nicht mehr nur darin, den Konsens zu finden, sondern die Widersprüche, Machtungleichgewichte und strukturellen Gerechtigkeitsdefizite aufzuzeigen, die dem – dann nur vermeintlichen – Konsens vorausgehen.

Ziviler Ungehorsam kann auch aus ethischen Motiven, also aus Gewissens- oder Glaubensgründen erfolgen. Henry David Thoreau bezahlte in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus Protest gegen die Sklaverei seine Steuern nicht und ging ins Gefängnis. Er bezeichnete die moralische Pflicht, staatlich begangenes Unrecht nicht zu unterstützen, als erster mit dem Begriff „civil disobedience“. Mahatma Gandhi und Martin Luther King weigerten sich, Gesetze zu befolgen, die dem Seelenheil schaden oder der göttlichen Ordnung widersprechen. Gerade das Beispiel Martin Luther Kings zeigt aber auch, dass die Berufung auf eine höhere Ordnung die Verfassung nicht notwendigerweise in Frage stellt, sondern diese auch weiterentwickeln kann.

Der legitime, also im eigentlichen Sinne „zivile“ Ungehorsam, den ich suche und untersuche, steht im Dienste einer guten Ordnung – also einer Ordnung, die Freiheit und Gleichheit zu verwirklichen versucht. Die öffentliche Diskussion aufzumischen, damit sich der demokratische Rechtsstaat über das Funktionieren seiner Institutionen und Gesetze versichern kann: Darin besteht gerade die rechtsstaatliche Funktion des zivilen Ungehorsams.

Samira Akbarian begründet schlüssig, warum es für die Vision einer freien und gerechten Gesellschaft notwendig sein kann, das Recht zu brechen. Im Umkehrschluss bedeutet das freilich auch: Wer Menschen, die zivilen Widerstand ausüben, als „Terroristen“ bezeichnet, hat die Grundlagen unserer Demokratie nicht verstanden oder – noch schlimmer – möchte sie nicht verstehen. Vielleicht werden kommende Generationen derartige populistische Ausritte entsprechend zu bewerten wissen.

Auch Martin Luther King galt nicht immer als die Ikone, die er jetzt ist. Während ihm nunmehr in Washington D. C. ein eigenes Denkmal und in den USA ein nationaler Feiertag gewidmet wurde, lehnten ihn 63 Prozent der Befragten in einer Umfrage von 1966 ab. Das ist keine Rechtfertigung für ungehorsamen Klimaprotest, aber vielleicht doch ein Indiz dafür, wie man künftig auf diese Proteste zurückblicken könnte.

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