Stürzende Imperien

Ich war bei dem Titel ein bisschen misstrauisch: Der Vergleich zwischen „dem Westen“ und dem römischen Imperium ist ja an sich ein typisch rechter Topos. Heutige Migranten werden dabei oft mit den „Barbaren“ der Völkerwanderung gleichgesetzt, Festungsbau und Rückkehr zu traditionellen Werten gefordert. „Stürzende Imperien“ von Peter Heather und John Rapley zieht ebenfalls Parallelen zwischen unserer Epoche und der Endphase des römischen Reichs – allerdings mit völlig anderer Stoßrichtung und durchaus überraschenden Thesen. Spoiler: Die Barbaren von heute, die das System ins Wanken bringen, sitzen nicht im Schlauchboot, sondern im Privatjet.

Hier gehts zu meiner Rezension für Kontext/Ö1

„Verfall und Untergang des römischen Imperiums“, so heißt das Hauptwerk des britischen Historikers Edward Gibbon aus dem späten 18. Jahrhundert. Zu dieser Zeit waren europäische Staaten gerade dabei, die Weltherrschaft zu erringen. Heute, etwa 240 Jahre später, haben Gibbons Thesen wieder Hochkonjunktur, allerdings auf Europa und die USA bezogen: Der Westen sei nämlich inzwischen so dekadent wie das römische Imperium kurz vor dem Fall, hört und liest man immer wieder. Nur die Rückbesinnung auf traditionelle Werte und das Hochziehen von Festungsmauern könne den drohenden Untergang abwenden. In dieselbe, häufig behauene Kerbe scheint auf den ersten Blick der Titel „Stürzende Imperien. Rom, Amerika und die Zukunft des Westens“ zu schlagen. Der am Londoner King’s College lehrende Historiker Peter Heather und der Cambridge-Ökonom John Rapley distanzieren sich jedoch von Gibbons Thesen. Parallelen zwischen dem taumelnden römischen Reich und unserer Epoche gebe es zwar tatsächlich, doch führten diese zu gänzlich anderen, unerwarteten Schlüssen.

Georg Renöckl hat sich überraschen lassen.

Steve Bannon, der einst einflussreiche Berater Donald Trumps, zählt zu den bekannteren Anhängern der Thesen Edward Gibbons. Laut diesem war das römische Imperium wirtschaftlich und moralisch von innen her so verfault, dass es für die anstürmenden Germanen zur leichten Beute wurde. Für Peter Heather und John Rapley beruht diese Meinung schlicht auf Unwissen. Moderner archäologischer Forschung verdanken wir ein völlig anderes Bild der Welt im vierten Jahrhundert nach Christus.

Ungeachtet seiner enormen Ausdehnung zeigte sich, dass die ländliche Besiedelung so gut wie überall im Römischen Reich im vierten Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte. Und da die römische Wirtschaft vor allem landwirtschaftsbasiert war, muss auch das Bruttoinlandsprodukt – also die Gesamtwirtschaftsleistung der römischen Welt – im vierten Jahrhundert einen Spitzenwert erreicht haben, der höher lag als zu jedem anderen Zeitpunkt der römischen Geschichte.

Das römische Reich siechte also nicht dahin, sondern stand kurz vor seinem Fall in voller Blüte. Um den bekanntlich dennoch erfolgten Untergang zu verstehen, schlagen Heather und Rapley vor, die Funktionsweise von Imperien allgemeiner zu betrachten. Anhand zahlreicher Parallelen zeigen die Autoren, wie die beiden von Eroberern und Siedlern geschaffenen Imperien ihre Macht und ihren Wohlstand vergrößerten. Doch kann man den Westen überhaupt ein „Imperium“ nennen?

Imperien sind dynamische Systeme, in denen wirtschaftliche und politische Kräfte zusammenwirken. Jedes langlebige Imperium durchläuft daher einen Entwicklungsprozess, in dem einzelne Elemente des Systems sich in ihren Beziehungen zueinander wandeln und dabei die Strukturen des Systems insgesamt transformieren. Das eröffnet uns eine weitere Perspektive auf die Entwicklung des modernen westlichen Imperiums. Auch diejenigen, die vielleicht seine Existenz grundlegend verneinen – mit dem berechtigten Argument, dass wir es nicht mit einem einheitlichen Gebilde zu tun haben –, können die allgemeine Kontinuität des westlichen Wirtschaftswachstums nicht leugnen, das 1999 in seinem unfassbaren Anteil am globalen Bruttosozialprodukt gipfelte .

Dieser Anteil betrug 80 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Um die Jahrtausendwende standen die institutionell eng verflochtenen westlichen Staaten wie einst das römische Imperium also auf dem Höhepunkt ihres Wohlstands, ehe sie 2008 von einer massiven Krise erfasst wurden. Den Grund dafür sehen die Autoren im systemisch betrachtet unvermeidlichen Erstarken peripherer Gebiete am Rand jedes imperialen Systems. Im Fall Roms führte der jahrzehntelange Kampf gegen das aufstrebende Perserreich zur Hyperinflation. Als exogener Schock zerstörte dann die von den Hunnen ausgelöste Völkerwanderung die fiskalisch-militärische Grundlage des Imperiums.

Heute verursacht die Globalisierung für den Nationalstaat die gleiche Art von Einnahmekrise, die es auch dem römischen Westen unmöglich machte, seinen fiskalischen Gesellschaftsvertrag zu erfüllen. Die Verlagerung von Kapital ins Ausland hat dazu geführt, dass die Regierungen der Peripherie einen immer größeren Anteil des globalen Einkommens für sich beanspruchen konnten, während die westlichen Regierungen um Investitionen konkurrieren mussten, so dass sie Einsparungen vornahmen, um ihre Steuersätze niedrig zu halten. Außerdem erleichterte die Liberalisierung der Finanzmäkrkte der globalen Oberschicht den Transfer riesiger Geldmengen in Steueroasen, wo inzwischen rund ein Zehntel des Weltvermögens dem Zugriff der Steuerbehörden entzogen ist.

Die von populistischen Politikern instrumentalisierte Unzufriedenheit in vielen Ländern des Westens – als Beispiele nennen die Autoren den Brexit, die Präsidentschaft Donald Trumps und die Regierungsbeteiligung der FPÖ in Österreich – hat ihre Wurzeln in einer weltweiten Wirtschaftsordnung, die dafür sorgt, dass Vermögen wesentlich rascher wachsen als Einkommen. Dadurch schwinden Aufstiegsmöglichkeiten, die soziale Mobilität geht zurück. Immer höhere Schuldenquoten werden in Kauf genommen, um den erreichten Standard zu halten. Ein Szenario, geprägt von Instabilität und sinkendem Lebensstandard sei möglich, aber nicht unausweichlich.

Wenn der völlige imperiale Zusammenbruch für das antike Rom selbst in einem späteren Stadium noch gerade so umkehrbar gewesen wäre, ist der aktuelle Kurs auf einen potenziellen Zusammenbruch für den modernen Westen daher ebenfalls umkehrbar, solange er akzeptiert, dass er nicht versuchen kann, die alte koloniale Weltordnung wiederherzustellen. In positiver Weise auf das Ende dieser alten Ordnung zu reagieren, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen, wird allerdings eine Reihe schwieriger Anpassungen erfordern, die über die bereits vorgenommenen hinausgehen.

Zu diesen Anpassungen zählen eine ehrliche Debatte über Einwanderung, die angesichts der überalterten westlichen Gesellschaften schlicht überlebensnotwendig ist, sowie das Akzeptieren ehemals peripherer Staaten als gleichwertige Partner. Im Idealfall bleibt vom verlorenen westlichen Imperium das Beste übrig, was es im Lauf seiner Geschichte entwickelt hat: Der Wohlfahrtsstaat, der zum veritablen Exportschlager taugt.

Mit einem bisschen Ehrlichkeit, was das Ausmaß an Gewalt und Ausbeutung angeht, auf dem das moderne westliche Imperium ursprünglich aufgebaut war, sollte auch niemand seinen Abgang betrauern. Überarbeitet für eine wirklich postkoloniale Epoche, bieten die fundamentalen Institutionen des sozialen integrierten westlichen Nationalstaats – ein die Interessen aller schützender Rechtsstaat, eine freie Presse, rechenschaftspflichtige politische Eliten, effiziente, unparteiische öffentliche Institutionen – eine bessere Lebensqualität für eine viel größere Zahl an Bürgern als jede konkurrierende Staatsform.

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