Richard Overys monumentales Werk über den Zweiten Weltkrieg, hier besprochen für Ö1/Kontext
Moderation
Winston Churchill und Charles de Gaulle haben den von ihren Ländern gegen Hitler-Deutschland geführten Kampf als Episode eines neuen Dreißigjährigen Kriegs betrachtet, der 1914 begonnen hat. Auch einige aktuelle Historiker vertreten diese These: Geendet hat der Erste Weltkrieg am 11. November 1918 nämlich nur in Westeuropa, während der Osten des Kontinents und auch Ostasien nicht zur Ruhe kamen.
Einen neuen Ansatz in der Debatte um die Einteilung der Weltkriege verfolgt der an der University of Exeter lehrende britische Historiker Richard Overy, Autor mehrerer Standardwerke zum Thema. Für ihn hat von 1931 bis 1945 ein globaler Krieg getobt, den er in seinem Buch Weltenbrand. Der große imperiale Krieg 1931 – 1945 beschreibt. Georg Renöckl hat sich durch Richard Overys 1500 Seiten starkes, 1,7 Kilogramm schweres opus magnum gekämpft.
Text
Der Zweite Weltkrieg begann mit einer leicht zu durchschauenden false-flag-Aktion. Ein inszenierter Anschlag schuf den Vorwand für einen militärischen Angriff ohne Kriegserklärung, der sich zum globalen Konflikt auswuchs. Die Rede ist nicht vom berühmten fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz am 1. September 1939, sondern von einem Sprengstoffattentat, das japanische Ingenieure am 18. September 1931 in der nordchinesischen Mandschurei verübten.
Global gesehen war dieser sogenannte Mukden-Zwischenfall eine Bagatelle. Aber die Auswirkungen des von den Japanern programmatisch „Mandschurischer Zwischenfall“ genannten Konflikts waren immens. Denn hier wurden, auf dem Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise, die ersten Schritte unternommen, um mit Gewalt eine neue imperiale und ökonomische Ordnung zu schaffen.
Ein Jahr später hatte Japan ein Territorium von der Größe Kontinentaleuropas erobert und eine neue imperiale Epoche eingeläutet. Die Überzeugung, dass eine Nation zum Überleben neuen Lebensraum erobern muss, wenn sie nicht untergehen will, war in den 1930er Jahren weit verbreitet – auch in Italien und Deutschland, die sich aufgrund der neuen Weltordnung nach 1918 zu kurz gekommen fühlten.
Für Richard Overy ist dieser verspätete Imperialismus nichts weniger als der eigentliche Grund für den Zweiten Weltkrieg. Der deutsche Überfall auf Polen am 1. September 1939 bekommt aus dieser Perspektive eine neue Bedeutung:
Die anderen Faktoren, die in Analysen zum Ursprung des Zweiten Weltkriegs meistens im Vordergrund stehen – Wettrüsten, diplomatische Krisen, ideologische Konflikte -, waren Auswirkungen dieser neuen imperialistischen Welle, nicht ihre Ursachen.
Der Krieg gegen Polen kann eher als Endstadium einer weitgehend unkoordinierten Bewegung der 1930er Jahre zur Gründung neuer Kolonialreiche verstanden werden denn als Eröffnungskonflikt des Zweiten Weltkriegs, wie man üblicherweise annimmt.
Die imperialen Bestrebungen Deutschlands, Italiens und Japans bringen ein fragiles Gleichgewicht durcheinander. Längst gibt es keine weißen Flecken mehr auf den Landkarten. Die neuen Kolonisatoren greifen souveräne Nationalstaaten an und bedrohen die Weltreiche historischer Kolonialmächte, allen voran Briten und Franzosen. Diese erklären daher Deutschland den Krieg.
Den westlichen Großmächten war klar, dass ihr Krieg ein Weltkrieg sein würde, der ihre imperialen Interessen auf allen Kontinenten betraf, und sie mussten nicht nur mit einem Kriegsschauplatz rechnen, sondern mit dreien. […]
Somit war die Bereitschaft, Krieg zu führen, nur zu rechtfertigen, wenn die Bedrohung für die imperiale Sicherheit und für das nationale Überleben als so massiv und unabwendbar eingestuft wurde, dass keine andere Lösung mehr möglich war.
Etwa die erste Hälfte seines Buchs widmet Richard Overy der Chronologie der Kampfhandlungen vom Überfall auf China bis zur Kapitulation Japans. In der zweiten Hälfte vertieft er einzelne Aspekte des zerstörerischsten aller Kriege. Er erklärt die Etappen der Mobilisierung von weltweit 43 Millionen Menschen, die im Jahr 1945 in Uniform daran teilnahmen, die Entwicklung der Kriegsführung sowie der Wirtschaft im Krieg und zeigt, wie Staaten ihre Gesellschaften zu Kriegskollektiven formten. Overy zeichnet auch die „emotionale Geographie“ des Krieges nach, in der er auf die vielfältigen Traumata und Neurosen bei Soldaten und Zivilisten eingeht, die zu Zeugen, Opfern oder Tätern eines in dieser Größenordnung noch nie dagewesenen Ausbruchs von Gewalt wurden, von den mit unerhörter Grausamkeit geführten Kolonialkriegen bis zur Shoah. Auch die sexuelle Gewalt nimmt kaum vorstellbare Ausmaße an, wie das Schicksal der sogenannten „Trostfrauen“ der japanischen Armee zeigt:
Es gibt keine wohlgesetzten Worte und auch keine Euphemismen, mit denen sich das fürchterliche Los bemänteln ließe, das die zu sexuellen Dienstleistungen gezwungenen Frauen zu tragen hatten. Sie waren Opfer von Vergewaltigungen, die vom ersten bis zum letzten Soldaten ausgingen, dem sie ausgeliefert waren. Jede der zur Prostitution gezwungenen Frauen, die hundert von Missbrauch bestimmte Tage überlebten, wurde bis zu dreitausendmal vergewaltigt.
War der Krieg gegen Japan, Italien und Deutschland und ihre Verbündeten also ein gerechter Krieg? Als solchen empfanden ihn jedenfalls alle Kriegsparteien. Sie schworen ihre Bevölkerungen auf einen Überlebenskampf ein, um sie zu größten Opfern und Anstrengungen zu motivieren. Die Annahme, dass die Alliierten die Rettung der von Vernichtung bedrohten Völker, allen voran der europäischen Juden zum Ziel hatte, hält laut Richard Overy der historischen Überprüfung nicht stand.
Der Krieg wurde nicht geführt, um Europas Juden zu retten, und die Regierungen aller drei alliierten Mächte hatten tatsächlich die Sorge, dass die Öffentlichkeit denken könnte, dies sei der Fall. Als die Befreiung dann kam, war sie eher ein Nebeneffekt umfassenderer Bestrebungen, die Achsenmächte aus den eroberten Gebieten zu vertreiben und die nationale Souveränität aller eroberten und unterworfenen Völker wiederherzustellen.
Trotz ihres Sieges verfehlten die Alliierten ihr Ziel. Nicht nur die neuen Imperien, auch die alten Kolonialreiche zerbrachen. Auch über diesen erst mit der Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 1962 vollendeten Vorgang gibt Overy einen Überblick und legt dabei die Wurzeln zahlreicher heute noch ungelöster Probleme wie des Nahostkonflikts offen.
Ob man die Epoche von 1914 bis 1945 nun als Dreißigjährigen Krieg betrachtet, den Zweiten Weltkrieg wie gewohnt am 1. September 1939 oder wie Richard Overy vorschlägt am 18. September 1931 beginnen lässt, mag auf den ersten Blick eine akademische Frage sein. Dass es für sein Verständnis geradezu zwingend ist, der außereuropäischen Dimension des Weltkriegs deutlich mehr Aufmerksamkeit als bisher zu widmen – daran kann nach der Lektüre von Richard Overys souverän erzählter und argumentierter Geschichte des Weltenbrands von 1931 bis 1945 kein Zweifel bestehen.