Hemmungslos, handlungsprall, erkenntnisarm: der neue Glavinic. Hier meine Besprechung in der NZZ.
Georg RenöcklDie Plots allein sind selten das wirklich Interessante an den Romanen des 1972 geborenen Österreichers Thomas Glavinic, der sich als Erzeuger von diffusem Grauen und Ausleuchter der Abgründe hinter alltäglichen Phantasien in die erste Reihe der deutschsprachigen Autoren seiner Generation geschrieben hat. Die Zusammenfassung seines neuen Romans «Das grössere Wunder» ist da keine Ausnahme. – Wie immer, wenn der Held Jonas heisst, erzählt Glavinic ein modernes Märchen. Jonas also wird als Kind von einem geheimnisvollen alten Mann aus denkbar tristen Verhältnissen – die Mutter trinkt, ihre nächtlich wechselnden Liebhaber neigen zur Gewalttätigkeit – befreit. Der «Boss» genannte Alte verfügt über unbegrenzte Ressourcen und steht offenbar über allen Gesetzen. Er nimmt Jonas und dessen besten Freund aus der Schule, erkennt, dass die Knaben hochbegabt sind, und lässt sie von auserlesenen Lehrern unterrichten: «Es kamen Nobelpreisträger ins Haus, Olympiasieger, Fernsehstars, Schachgenies, Künstler, Politiker und Zauberer.»
Vollgas im Leerlauf
Natürlich sind die Buben keine langweiligen Streber: Sie spielen ihren Lehrern wilde Streiche, beherrschen Kung-Fu und können es zu zweit jederzeit mit der versammelten Dorfjugend aufnehmen. Der «Boss» lässt sie gewähren, doch wehe, jemand krümmt ihnen tatsächlich ein Haar: Dann schickt er seine Gorillas los, und schon verschwindet der brutale Zahnarzt genauso von der Bildfläche wie der sadistische Briefträger. So vergehen Kindheit und Jugend, und irgendwann sind alle tot, ausser Jonas. Dieser ist nun nicht nur frei von jeglicher Bindung, sondern als alleiniger Erbe des Alten auch unermesslich reich. Er bricht in die Welt auf, um den «Kern seines Wesens» zu verstehen und herauszufinden, «was ihn im Innersten ausmacht».
Das klingt reichlich klischeehaft und ist es auch. Eine befremdliche Sehnsucht nach wohlwollenden Autoritäten und geheimnisvollen guten Mächten prägt den Text, der noch dazu eine Überdosis an Maximen und Lebensweisheiten abbekommen hat. «Wichtig ist im Leben eigentlich nur, dass man offen bleibt und dass man den Mut hat, ein neues Leben zu führen, eines, das noch niemand zuvor gelebt hat», lautet eine davon. Jonas missversteht sie gründlich, der Erzähler wohl auch: Nach dem Tod des krebskranken alten Mannes fällt beiden zwar alles Mögliche, aber eben nichts wirklich Neues ein. «More of the same» ist das Programm für Jonas‘ weiteres Leben und den Fortgang der Romanhandlung. Mit Vollgas im Leerlauf kommen beide nicht vom Fleck.
Der «Boss» ist tot? Nun, bald wacht eine andere graue Eminenz als väterlicher Freund über Jonas, ein geheimnisvoller Asiat, der über ein weltweites Netzwerk von dienstbaren Kräften verfügt, alles weiss und jeden Job erledigen kann. Jonas machte als Kind verrückte und gefährliche Dinge? Als Erwachsener macht er noch verrücktere und noch gefährlichere Dinge. Er inszeniert sein Leben als fortwährendes, nervtötend pubertäres «Wahrheit oder Pflicht»-Spiel, stellt sich möglichst absurde Aufgaben, begibt sich beim Extremsport in Lebensgefahr, lässt sich das grösste Baumhaus der Welt bauen und kauft eine Südsee-Insel, um dort in Ruhe Musik zu hören. Auch geschwiegen wird auf extreme Weise: «Zwischendurch gelang es ihm, über ein Jahr lang mit niemandem ein Wort zu wechseln», heisst es einmal, oder: «Er verliess die Wohnung zwei Jahre lang nicht.» Jonas wurde als Kind von den besten Köpfen der Welt unterrichtet? Seine späteren Freunde auf allen Kontinenten brauchen sich nicht zu verstecken, sie gehören zur Weltklasse unter den Bergsteigern, Surfern, Architekten, Köchen. Mit den weiblichen darunter – schönen, selbstbewussten, freien Frauen – hat Jonas Sex. Guten natürlich, aber Weltklasse wird die Sache erst mit der Ausnahmemusikerin Marie, seiner grossen Liebe, die ihn jedoch bald wieder verlässt. Tief getroffen beschliesst Jonas, den Mount Everest zu besteigen. Die Expedition auf den Berg bildet den zweiten Erzählstrang und die Rahmenhandlung des Romans: Beim qualvollen Aufstieg denkt Jonas an sein bisheriges Leben zurück, bis ihn die Vergangenheit auf dem Rückweg ins Basislager einholt.
So hoffnungslos überfrachtet und hemmungslos klischiert Jonas‘ Lebensgeschichte wirkt, so glänzend ist der Roman in den Teilen erzählt, die auf dem Mount Everest spielen. Hier erweist sich Glavinic – ohne je selbst an einer solchen Expedition teilgenommen zu haben – als meisterhafter Beobachter und Chronist. Souverän beschreibt er die todbringende Schönheit des Berges, die Unsinnigkeit des Massentourismus im Basislager, die Gefahren, die mit dem Ansturm einhergehen, die Spannungen zwischen Sherpas und westlichen Bergsteigern, den lächerlichen Ehrgeiz der Gipfel-Sammler, das quälende Warten auf ein Schönwetter-Fenster. Vor allem aber gelingt es ihm, die mannigfaltigen Formen körperlichen Leidens, das die Expeditionsteilnehmer auf sich nehmen – von ständiger Übelkeit bis zum Delirium kurz vor dem Erstickungstod –, in eine Sprache zu übertragen, die die Lektüre dieser Passagen zu einer fesselnden, geradezu körperlich aufreibenden Leseerfahrung macht.
Die Frage des Aufwands
Der Schluss des Buches, an dem die beiden Handlungsstränge zusammenfinden, stimmt versöhnlich: Der Roman endet mit einer Lüge aus dem Mund von Jonas, der doch einmal beschlossen hat, stets die Wahrheit zu sagen. Es sieht so aus, als könnte er sich nun endlich aus seinem bisherigen, starren Lebensmuster lösen. Offen bleibt die Frage, ob es für diesen bescheidenen Lernerfolg den ganzen erzählerischen Aufwand wirklich gebraucht hat, das Gute-Mächte-Märchen und die Selbstfindungsorgie eines so gut wie unheilbaren Egozentrikers, dem keine materiellen Grenzen gesetzt sind. Der grosse Liebesroman, als der das Buch angekündigt wurde, ist «Das grössere Wunder» jedenfalls nicht. Der könnte nämlich erst dort, wo der Roman endet, beginnen.
Thomas Glavinic: Das grössere Wunder. Roman. Verlag Carl Hanser, München 2013. 528 S., Fr. 34.90.