Mit dem Fotografen Chris Mavric war ich im Oktober im Veneto, um den Folgen des Hitzesommers nachzuspüren. Für die Schweizer WOZ ist daraus folgende Reportage geworden:
Im vergangenen Dürresommer strömte Meerwasser im Mündungsgebiet des Po mitten durch ein jahrhundertealtes Reisanbaugebiet. Welche Zukunft sehen die Reisbäuer:innen für ihre Betriebe? Eine Reportage zur Erntezeit.
Ein ausgetrocknetes Flussbett ist schlimm. Ein Fluss, der in die falsche Richtung fliesst, ist schlimmer. Anstatt sich wie gewohnt in die Adria zu ergiessen, machte der mächtigste Strom Italiens im Frühsommer 2022 plötzlich kehrt. Im Ort Ca‘ Tiepolo, wo eine Brücke den an dieser Stelle 300 Meter breiten Po überspannt, warfen die Menschen Äste ins Wasser und filmten, wie diese von der Strömung mitgetragen wurden – ins Landesinnere, weg vom Meer. Doch es war gar nicht der Po, der da plötzlich verkehrt unter der Brücke durchfloss. Es war die Adria. Da kaum noch Wasser von oben kam, strömte das Meer ins Bett des Stroms, zum Teil mit reissender Geschwindigkeit.
Der unheimliche Anblick ist den Einheimischen nicht neu, alle paar Jahre bildet sich ein sogenannter Salzkeil. Doch so weit wie 2022 kam er noch nie: Bis zu vierzig Kilometer stiess das Meer ins Landesinnere vor und füllte nicht nur den Hauptarm, sondern auch die fünf Nebenarme des Stroms mit Salzwasser.
„Geht es so weiter, wird das Delta zur Wüste. Und was soll man in der Wüste schon anpflanzen?“ Giorgio Uccellatori, Reisbauer
„Das Salz im Boden gibt unserem Reis seinen besonderen Geschmack“, erklärt Landwirt Enrico Moretto – ein drahtiger Mann mit Dreitagebart und tiefen Lachfalten -, weshalb die unmittelbare Nähe zum Meer für die Bäuer:innen an der Flussmündung bisher als klarer Vorteil galt. „Sie müssen den Risotto natürlich trotzdem noch salzen, aber es schmeckt einfach viel würziger, wenn der Reis aus dem Delta kommt.“ Der Motor eines vorbeifahrenden Mähdreschers übertönt das folgende Kochrezept. Es ist ein sonniger, ungewöhnlich milder Oktobertag, an dem Enrico Moretto mit seinem Cousin Andrea am Rand des letzten Reisfelds steht, das in diesem Jahr noch abgeerntet wird. Brandgeruch liegt in der Luft, da und dort sieht man Rauchsäulen in den Himmel steigen. Auf den umliegenden, bereits gemähten Feldern wird Reisstroh verbrannt; es tauge nicht als Einstreu, sagen die beiden Reisbauern. Nichts deutet an diesem goldenen Herbstnachmittag darauf hin, dass sie einen katastrophalen Sommer hinter sich haben.Lagunen, Salzwiesen, Auwaldreste
Das Delta des Po, in dessen Süden der Hof der Familie Moretto liegt, ist eine dem Meer abgetrotzte Kulturlandschaft. Das Gebiet liegt an der Grenze der Regionen Veneto und Emilia-Romagna, erstreckt sich 40 Kilometer in Nord-Süd- und etwa 35 Kilometer in West-Ost-Richtung, Tendenz steigend: Durch die von ihm transportierten Sedimente schiebt der Strom die Küstenlinie langsam, aber stetig in Richtung Osten. Um eine Verlandung ihrer Lagune zu verhindern, gruben die Venezianer:innen zu Beginn des 17. Jahrhunderts einen neuen Hauptarm, seither Po di Venezia genannt. Das Delta mit seinen Feuchtgebieten und Auwaldresten, seinen Flussarmen, Lagunen und Salzwiesen zählt zu den Gebieten mit der höchsten Biodiversität Italiens. Es ist Brut- und Rastgebiet von 384 Vogelarten.
Seit jeher wird hier auch Landwirtschaft betrieben: Weite überflutete Flächen dienen der Fischzucht und der Jagd auf Wasservögel, riesige Felder dem Anbau von Getreide, seit Jahrhunderten auch von Reis. Mit 5000 Hektaren ist die im Delta dafür genützte Fläche nicht besonders gross, jedenfalls im Vergleich zu Regionen wie dem Piemont und der Lombardei, wo über neunzig Prozent des italienischen Reises herkommen. Doch den Bäuer:innen des Deltas geht es nicht um Quantität: „Der beste Reis der Welt kommt aus Italien, der beste Reis Italiens kommt aus dem Delta“, rührt Adriano Zanella, Präsident der zur IGP (Indicazione geografica protetta) Riso del Delta del Po zusammengeschlossenen Landwirt:innenbetriebe, die Werbetrommel. Die konstante leichte Meeresbrise halte die Pflanzen trocken und gesund. Ausserdem seien die Böden, die noch vor wenigen Jahrzehnten vom Meer bedeckt waren, besonders mineralstoffreich und daher optimal für den Reisanbau.
Bis zu zwei Promille Salz im Boden halte der Reis aus, geht Enrico Moretto, während er erntet, weiter ins Detail. Er zückt sein Handy und zeigt Fotos abgestorbener Reispflanzen auf der nackten Erde. In diesem Sommer stieg der Salzgehalt des Bodens an manchen Stellen auf zehn Promille an, das Fünffache der für die Pflanzen gerade noch erträglichen Dosis. Der Ertrag hingegen wurde dieses Jahr durch fünf geteilt: Von durchschnittlich 7,5 Tonnen Reis pro Hektare fiel die Produktion auf 1,5 Tonnen. Statt wie sonst etwa 350 Tonnen beträgt die Ernte der Familie in diesem Jahr nur etwa 70 Tonnen Reis.
Wenige Kilometer südlich vom Reisfeld der Moretto-Cousins fliesst der Po di Gnocca in eine weite Lagune namens Sacca degli Scardovari. Niky Penini steuert dort ein Motorboot durchs flache Wasser. Wie schon sein Urgrossvater, der hier Fischer war, lebt der 33-Jährige von der Lagune. Er ist Naturguide und als Züchter von Venusmuscheln Teil eines einzigartigen Kollektivs: Die 1500 Muschelbäuer:innen der Sacca degli Scardovari verwalten ihre Bestände gemeinsam. Es gibt eine einzige Abgabe- und Kontrollstelle für die Muscheln, und auch den Preis setzt das Kollektiv fest. Den Muschelproduzent:innen garantiert das System ein gutes Auskommen, den europäischen Wettbewerbshütern ist es ein Dorn im Auge. „Wir kämpfen mit allen legalen Mitteln gegen die Privatisierungspläne“, erklärt Penini, bezweifelt jedoch die Erfolgschancen.
Dass die Trockenheit in diesem Sommer für die Probleme der Landwirtschaft verantwortlich ist, glaubt er nicht. Der Landstrich, auf dem auch der Hof der Familie Moretto liegt, sei vor siebzig Jahren noch ein riesiges Feuchtgebiet gewesen. „Und Feuchtgebiete sind wie Batterien. Sie speichern das Wasser, wenn genug davon da ist, und geben den Überschuss in Trockenzeiten langsam ab. Heute sind hier überall nur Felder, Felder, Felder. So geht es aber nicht weiter.“ Denn die Trockenheit werde mit Sicherheit wiederkommen. „Sie ist aber nicht das Problem. Das Problem ist der falsche Umgang mit dem Land.“Wie der Wohlstand ins Delta kam
Als die Grosseltern Moretto ihren Hof 1953 erwarben, lag ihr Besitz zum Teil noch unter Wasser. Fotos zeigen weitläufige Fischgewässer an der Stelle der Felder, auf denen heute der Reis geerntet wird. Wie es damals fast im ganzen Delta aussah, lässt sich am besten bei einem Besuch im nahen Museo della Bonifica erkunden, das direkt an der Abzweigung des Po di Gnocca vom Hauptarm liegt. „Bonifica“ bedeutet Urbarmachung, aber auch Trockenlegung, und genau darum geht es im imposanten Backsteingebäude mit dem weithin sichtbaren Schlot. Es handelt sich um ein ehemaliges Pumpwerk, das um 1900 zur Trockenlegung des südlichen Deltas erbaut wurde. Neben gut erhaltenen Maschinen aus Gusseisen zeigen Schautafeln, welch gigantischer Aufwand hinter der Landgewinnung steckt. Um 1900 war ein Grossteil des Landes hier noch ein regelmässig überschwemmtes Feuchtgebiet. Die Menschen lebten in primitiven Hütten aus Schilf, Regen verwandelte den Untergrund immer wieder in ein Meer aus Morast. Die Maschinen pumpten das Wasser aus dem Boden heraus und Wohlstand ins Delta hinein. Wo einst blanke Armut herrschte, erstrecken sich heute schier endlose, fruchtbare Getreidefelder.
Zwei Geschwisterpaare der Familie Moretto haben 2017 die beiden Höfe ihrer Eltern zusammengelegt und seither viel in ihren Betrieb investiert. Ihre Grosseltern und Eltern verkauften den ungeschälten Reis noch ausschliesslich an den Grosshandel. Mittlerweile wurde eine moderne Verarbeitungsanlage ins Obergeschoss der Azienda Moretto eingebaut. Vorsichtig schaufeln die Cousins die Ernte des Nachmittags im Hinterhof in einen grossen Trichter, über den der Reis zunächst zum Trocknen in ein Silo gesaugt wird. Sie reinigen die Winkel, in die sich einzelne Körner verirrt haben, sorgfältig mit blossen Händen. Kein Reiskorn geht verloren, so wertvoll war die Ernte noch nie. Der Preis für den „risone“, den ungeschälten Reis, von dem ein Teil an den Grosshandel geht, hat sich auf etwa achtzig Euro je hundert Kilogramm verdoppelt, doch das kann die Verluste bei weitem nicht wettmachen. Die Preise für Dünger haben sich verdreifacht, die Energie- und Treibstoffkosten sind hier wie anderswo schwindelerregend hoch.
Einsparpotenziale gibt es bei der Verarbeitung keine mehr, die moderne Anlage arbeitet effizient: Aus hundert Kilogramm Risone werden sechzig Kilogramm vakuumverpackter Reis, Abfall gibt es dabei keinen. Die Schalen würden zu Einstreu verarbeitet, die gebrochenen oder zu kleinen Reiskörner kämen in die Tierfutterproduktion, erklärt Luigi Moretto. Der studierte Vermessungstechniker berichtet mit ansteckender Begeisterung von der Neuausrichtung des Familienbetriebs, durch den er regelmässig Kundinnen und Touristen führt. Im Hofladen gibt es eine breite Palette an Produkten der Azienda zu kaufen: neben Carnaroli- und Baldo-Reis auch Mehl, Bier und Kekse – selbstverständlich alles glutenfrei und aus dem hauseigenen, würzigen Deltareis hergestellt. Sogar die aufwendigen Geschenkverpackungen werden in einem eigenen Atelier vor Ort selbst gebastelt.
Ihren Teil für eine gedeihliche Zukunft des Betriebs hat die aktuelle Eigentümer:innengeneration geleistet. Doch was, wenn der Boden nächstes Jahr wieder so versalzen ist wie diesen Sommer? „Wir hoffen einfach, dass es weniger schlimm wird“, sagt Enrico lakonisch.Bewässerung statt Trockenlegung
Dass sich ein Sommer wie 2022 nicht wiederholen darf, weiss man auch im Consorzio di Bonifica im nahen Taglio di Po, einem nach dem Durchstich von 1604 benannten Ort am südlichen Ufer des Hauptstroms. Alle Grundbesitzer:innen des Deltas sind Mitglieder des Konsortiums, dessen Arbeit gleichzeitig mit dem Strom selbst in diesem Sommer eine neue Richtung eingeschlagen hat. Früher hatten die Landwirt:innen des Deltas oft mit zu viel Wasser zu kämpfen, doch damit ist es vorbei.
Statt um die Trockenlegung des Gebiets gehe es künftig um seine Bewässerung, erklärt Vizedirektor Rodolfo Laurenti, über den grossformatigen Ausdruck einer Satellitenaufnahme des Deltas gebeugt. Ein engmaschiges Netz von Kanälen und Rohren zur Be- und Entwässerung überzieht das Land, das von zahlreichen Dämmen vor Überflutungen geschützt wird. Im Lauf der Jahre mussten diese Dämme immer wieder erhöht werden: Als in den vierziger Jahren Methan im Boden entdeckt und etwa fünfzehn Jahre lang gefördert wurde, sackte das Gebiet um bis zu fünfzig Zentimeter pro Jahr in die Tiefe. Heute liegt es an die 3,5 Meter unter dem Meeresspiegel.
Im Juni 2022 stand der Consorzio vor einer Herkulesaufgabe: Die Kanäle, über die im Sommer normalerweise das Wasser aus dem Po ins Bewässerungssystem fliesst, mussten mit dem Vordringen des Salzwassers der Reihe nach geschlossen, die Höfe trotzdem weiterhin mit Süsswasser versorgt werden. „Wir mussten eben improvisieren“, erklärt Ingenieur Laurenti. Jedes verfügbare Rohr und jeder greifbare Dieselmotor wurden eingesetzt, um Wasser vom Canal Bianco, der weiter landeinwärts von der Etsch abzweigt, ins Delta zu leiten und auf die Bauernhöfe zu verteilen. Manche Betriebe in den Randzonen, wo mehr Salzwasser in den Boden eindrang, hat es härter erwischt, doch insgesamt sei man mit einem blauen Auge davongekommen. Im Durchschnitt verloren die Bäuer:innen etwa dreissig Prozent ihrer Ernte.
Eine mächtige Kiefer stirbt gerade vor dem 400 Jahre alten, nach der venezianischen Adelsfamilie Vendramin benannten Hof der Familie Uccellatori. 78 Jahre alt ist sie geworden, seit ein paar Wochen ist sie braun und struppig. Hat der tief wurzelnde Baum eine weit unten im Boden lagernde Salzschicht erreicht, die ihm früher oder später ohnehin zum Verhängnis werden musste? Oder ist der Dürresommer schuld an seinem Tod?
Giorgio Uccellatori wiegt den grau melierten Kopf, er möchte sich nicht festlegen. Der Landwirt, der die Geschicke des Hofes seit den siebziger Jahren lenkt, ist ein überlegter Mann, der sich von der Empirie leiten lässt. Wie andere Landwirt:innen der Region sammelt auch er seit einigen Jahren Erfahrungen mit neuen Reissorten, etwa der Carnaroli-Variante Caravaggio, die weniger leicht umknickt als der klassische Carnaroli, diesem jedoch im Geschmack unterlegen ist. Findet jedenfalls Giorgio Uccellatori. Wichtiger als die Sorte sei während der Dürre ohnehin der Zeitpunkt der Aussaat gewesen: Später gesäte und daher auch geerntete Felder haben einen höheren Ertrag erzielt, da sie nach den heissesten Wochen noch weiter reifen konnten. Uccellatori steht heute am Ende seines Erwerbslebens, denkt aber voller Sorge über die Zukunft seines Betriebs nach. „Wenn es so weitergeht, wird das Delta zur Wüste. Und was soll man in der Wüste schon anpflanzen?“Ein riesiges Tor an der Mündung als Rettung?
Die nächste Generation ist gerade dabei, die Zukunft des Hofes in die Hand zu nehmen. Seit 2018 vermarktet die Familie, deren Felder von drei Armen des Po begrenzt werden, einen Teil ihrer Produktion unter der Marke „TrePo“ selbst. 700 Tonnen Reis ernten sie in normalen Jahren, dieses Jahr ein Drittel weniger. In einem Nebengebäude wird seit 2019 ein vollmundiges, unfiltriertes Reisbier nach belgischem Vorbild gebraut. Noch ist die Bierproduktion mit jährlich 2000 Litern relativ bescheiden, doch Giorgios Neffe Marco, der als Braumeister über die Bierproduktion wacht und auch das Logo für die Marke gestaltet hat, ist mit dem Anfang zufrieden: „Wir sind hier schliesslich in keiner traditionellen Biergegend.“
„Sie haben diesen Sommer ein Wunder vollbracht“, lobt Giorgio Uccellatori die Arbeit der Ingenieure des Consorzio di Bonifica. Auf ein weiteres Wunder sollen sich seine Nachfolger:innen aber nicht verlassen müssen. Ein riesiges Tor an der Flussmündung, das sich automatisch schliesst, wenn Meerwasser ins Flussbett strömt, sei langfristig der einzige Weg zur Rettung der Landwirtschaft im Delta. Zahlreiche Studien würden die Machbarkeit und vor allem die Sinnhaftigkeit eines solchen Tores bestätigen, ist Uccellatori überzeugt. Nun sei es am Staat, die Kosten von geschätzten 55 Millionen Euro zu stemmen.
Frühestens in zehn Jahren könnte der Plan umgesetzt werden, schätzt Rodolfo Laurenti im Büro des Consorzio di Bonifica. Bis es so weit ist, arbeitet man dort an kurzfristigen Massnahmen. Zunächst sollen die Bewässerungskanäle verbreitert werden, damit sie im Sommer mehr Süsswasser aufnehmen können. Ausserdem will man zusätzliche Wasserreservoirs anlegen, etwa kurz vor der Mündung, wo sich der Po noch einmal weitet. Dort sei Platz für eine Million Kubikmeter Wasser. Wie lange die Bäuer:innen des Deltas damit auskommen würden? „Eine Woche“, so Rodolfo Laurenti. Die eine grosse Lösung für alle Probleme gebe es nun einmal nicht, es brauche viele kleine Massnahmen – und ein Tor, um künftige Salzkeile zu stoppen.
Unmittelbar am modernen Bürogebäude mit viel Sichtbeton, in dem das Consorzio an der Rettung der Landwirtschaft im Delta arbeitet, fliesst der Po vorbei. Am schönsten ist er ein paar Kilometer stromabwärts, bei Ca‘ Tiepolo, wo der alte Hauptarm Po di Maistra scharf nach Norden abbiegt. Kleine Inseln, stillgelegte Altarme und Auwaldreste machen ihn zu einem idealen Habitat für Wasservögel. Wie zu Statuen erstarrte Reiher lauern auf den Inseln auf Beute. Schwärme von Möwen, Seeschwalben, Kormoranen und Ibissen mit ihren charakteristischen schwarzen Köpfen und nach unten gebogenen Schnäbeln bevölkern die Luft, Flamingos staksen durchs seichte Wasser und bereichern die vielstimmige Geräuschkulisse durch ihr eigentümliches, schnarrendes Quäken.
Weniger idyllisch, doch umso mächtiger wirkt der „neue“ Hauptarm von 1604, der Po die Venezia, der scheinbar unaufhaltsam in Richtung Osten strömt. Der Eindruck täuscht jedoch: Nach wie vor fliesst in diesem Herbst viel zu wenig Wasser unter der Brücke bei Ca‘ Tiepolo hindurch. 499 Kubikmeter pro Sekunde wurden am 10. Oktober in Pontelagoscuro bei Ferrara gemessen, 1428 Kubikmeter betrug das Mittel der letzten zehn Jahre an diesem Tag. Ende Juni, als die Strömung die Richtung wechselte, waren es 200 Kubikmeter.
Die viel zu geringe Wassermenge stimmt auch Luigi Arduini nachdenklich, der nach eingebrachter Ernte an seinem Schreibtisch in einem zinnoberrot gestrichenen historischen Gebäude arbeitet. Der illustre Name von Arduinis Hof, Ca‘ Dolfin, geht wie so viele andere Namen hier auf eine der venezianischen Patrizierfamilien zurück, die im 17. Jahrhundert die Trockenlegung des Deltas vorantrieben und stattliche Landhäuser errichteten. Seit 1854 befindet sich der Hof im Besitz der Familie Arduini und ist als einziger im Delta seit fünfzehn Jahren biozertifiziert.
Der elegante Mann aus Ferrara, mehr Schlossherr als Bauer, erklärt seine Sicht der Lage mit ruhiger Stimme klar und deutlich. Dolfin sei in diesem Sommer mit Ernteeinbussen von zwanzig Prozent zwar relativ glimpflich davongekommen, dennoch hätte es gar nicht so weit kommen dürfen: Anstatt sich an eine vorgesehene Reduktion der Wasserentnahmen um zehn Prozent zu halten, hätten Betriebe weiter oben am Strom sogar dreissig Prozent mehr Wasser als sonst vom Strom abgezweigt. „Und dafür gibt es keinerlei Sanktionen“, ärgert sich der sonst so kontrolliert wirkende Leiter der Ca‘ Dolfin über den „Kompetenzdschungel“ zwischen Staat und Regionen, der das Flussmanagement ineffizient mache: „Der Klimawandel bringt Probleme ans Licht, die längst da waren, die man aber nicht gesehen hat. Jetzt müssen wir uns an die neue Situation anpassen. Und das sehr schnell.“
225 Kilometer flussaufwärts, in Parma, hat eine der Behörden ihren Sitz, von der die Landwirt:innen des Deltas Taten sehen wollen: Die Agenzia Interregionale per il fiume Po (Aipo) betreut für die Regionen Piemont, Lombardei, Emilia-Romagna und Veneto den Po, seine Wasserbauten und seine Schiffbarkeit. Ihr Direktor Meuccio Berselli stösst ins selbe Horn wie Arduini: Die Vorstellung, dass es sich beim Wasser um eine immer verfügbare Ressource handle, müsse dringend überwunden werden, stellt er im Mailinterview klar. Direktor Berselli verweist auf ein von der EU mit 357 Millionen Euro subventioniertes Projekt zur Renaturierung des Po, das bis 2026 umgesetzt werde. Die Verbesserung der morphologischen Bedingungen des Flusses könne sich positiv auf die Durchflussmenge auswirken. Zusätzlich müssten in Zukunft aber alle Möglichkeiten genützt werden, bereits im Frühjahr möglichst viel Wasser zu speichern. Was das Tor an der Mündung des Flusses betrifft, auf das die Landwirt:innen im Delta drängen, gibt sich Berselli abwartend: Dieses sei eine von mehreren möglichen Lösungen für das Problem des in den letzten Jahren immer wieder aufgetretenen Salzkeils und allenfalls eine gesamtstaatliche Aufgabe, keine der Regionen.Wie ein vergessenes Paradies
Durch ein Tor, wie es Rodolfo Laurenti und Giorgio Uccellatori gerne am Hauptarm installiert sähen, fährt Niky Penini mit seinem Motorboot regelmässig auf dem Weg zu seinen Muscheln. Es lässt das Wasser vom schmalen Po di Gnocca in die Lagune fliessen und schliesst sich durch einen Klappmechanismus, wenn die Strömung dreht. In diesem Sommer, in dem das in den Hauptarm aufgestiegene Salzwasser von oben durch den Nebenarm ins Meer zurückfloss, hatte es jedoch keinerlei schützende Wirkung. „Vielleicht haben wir einfach die Fähigkeit verloren, mit der Natur richtig umzugehen“, meint der Muschelzüchter, während er das Boot durch ein Gewirr von Wasserarmen und kleinen Inseln lenkt, das mit seinen scheinbar unberührten kleinen Sandstränden voll Schwemmholz und Muscheln wie ein vergessenes Paradies aussieht. Dicke Rohre, durch die Wasser über die schützenden Dämme gepumpt wird, erinnern in unmittelbarer Nähe wieder daran, dass wir uns nicht in einem Stück ursprünglicher Natur befinden, sondern in einer vom Menschen geschaffenen und kontrollierten Kulturlandschaft.
Über dieser steht spätestens seit dem letzten Sommer ein riesiges Fragezeichen. Aufgrund seiner exponierten Lage ist das Delta des Po früher als andere Regionen von den Veränderungen betroffen, die der Klimawandel mit sich bringt. Wie gut es dort und in der gesamten Poebene gelingt, mit der knapper werdenden Ressource Süsswasser umzugehen, wird über seine Zukunft mitentscheiden. Muschelzüchter Niky Penini in seinem Boot zitiert ungerührt Charles Darwin: „Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, auch nicht die intelligenteste, sondern diejenige, die sich am besten an Veränderungen anpassen kann.“