Österreichs verdrängter Staatsvertrag

Als Nationalstaat hat Österreich gerade sein 100-jähriges Jubiläum übersehen. Das war auch zu erwarten: Zum Feiern fand man die Entstehung dieses Nationalstaats am 10. September 1919 nicht. An sich wäre das 100-Jahr-Jubiläum ein guter Anlass zum Nachdenken und zur Standortbestimmung gewesen – aber anscheinend liegt uns das kollektive Verdrängen eher. Eine verpasste Gelegenheit, wie ich im Spectrum meine: 

 

 

Österreichs verdrängter Staatsvertrag

Am 10. September 1919 wurden in Saint-Germain-en-Laye der Name und die Grenzen Österreichs festgelegt. Das hundertjährige Jubiläum ihres Gründungsdokuments wird die Republik jedoch verschlafen.

 

„In einer Vitrine sah ich die Mumie eines alten keltischen Häuptlings, der genau so ausgesehen hatte, wie Clemenceau; mir kam es vor, als grinste er mich hämisch an. Und im Sitzungssaal, über der Stelle, an der wir Österreicher unsere Plätze haben würden, las ich eine große Inschrift: ‚Ausgestorbene Tiere‘.“

Es sind ungünstige Vorzeichen, die Richard A. Bermann Ende Mai 1919 im Schloss von Saint-Germain-en-Laye beobachtet. Der Journalist und Reiseschriftsteller, als Feuilletonist auch bekannt unter seinem Pseudynom Arnold Höllriegel, war als Korrespondent für die linksliberale Zeitung „Der neue Tag“ mit der österreichischen Delegation ins vornehme Städtchen westlich von Paris gereist. „Daß die nationale Existenz der Sudetendeutschen und der westungarischen Deutschen erhalten bleibe, daß wir Bozen und Meran nicht verlieren, das ist die große Sache, die wir zu führen haben […]. Nicht minder wichtig ist freilich, daß auch die anderen Gebiete der Deutschen im zerstörten Österreich mögliche Lebensbedingungen finden“, stand anlässlich der Abfahrt der Delegation am 11. Mai im Leitartikel von Bermanns Zeitung. In einer Karikatur mit dem Titel „Der Friedensengel“ drischt in derselben Ausgabe ein riesiges Skelett mit dem unverkennbaren Schnurrbart Clemenceaus mit einer Peitsche auf zerlumpte Menschen ein.

Die Wochen, in denen die von Karl Renner geleitete Delegation in Saint-Germain weilt, verlaufen in den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie überaus dramatisch. Der Weltkrieg ist seit Monaten zu Ende, doch vielerorts wird weitergekämpft. Berichte vom polnisch-ukrainischen Krieg im ehemaligen Galizien, von Scharmützeln im deutschsprachigen Westungarn, von Kämpfen in der Südsteiermark und in Kärnten füllen die Zeitungen.

Ganz anders die Neuigkeiten aus dem Westen: „Langeweile in Saint Germain“ ist einer der Korrespondentenberichte Bermanns überschrieben. Vor allem zu Beginn des Aufenthaltes befinden sich die österreichischen Politiker, Juristen und Journalisten von der Öffentlichkeit abgeschirmt unter Hausarrest: „Holzgitter und gespannte Stricke trennen uns von den Alleen, wo unter blühenden Kastanien Kinderwagen geschoben werden und Schaukeln schwingen. Wir leben auf einer Art Robinsoninsel und sehen von der Außenwelt nur die Offiziere und Detektivs, die uns bewachen“, schreibt Bermann im „Neuen Tag.“ In seinen zwanzig Jahre später verfassten Memoiren schildert er hingegen, wie „jenseits der Seile das Volk von Paris sich erging und neugierig zu den gefangenen Barbarenhäuptlingen hereingaffte. An Sonntagen pilgerte halb Paris nach St. Germain; an diesem Tag verließen wir, um der bösartigen Neugier und den neckenden Zurufen der Pariser zu entgehen, die Häuser überhaupt so wenig wie möglich […]“

Langweilig sind die Berichte von damals aus heutiger Sicht keineswegs, vermitteln sie doch einen Eindruck der heftigen Emotionen, die die Gesellschaft in der Umbruchszeit durchrüttelten. Bis zum Bekanntwerden der Friedensbedingungen hoffte man, die junge Republik würde ähnlich wie die übrigen aus der Donaumonarchie hervorgegangenen Staaten behandelt. Viele sehnten sich, so auch der sozialdemokratische Staatskanzler und Delegationsleiter Karl Renner selbst, nach einem baldigen Anschluss an Deutschland. Auch Richard A. Bermann befürwortete im Gegensatz zur Linie seiner Zeitung den Anschluss, auch wenn er noch wenige Jahre zuvor, als er Kriegsberichterstatter in Triest war, völlig andere Vorstellungen von Mitteleuropa gehabt hatte: „Ich wollte nur den deutschen Teil Südtirols für Österreich gesichert sehen; mochten die Italiener Trient und Rovereto bekommen. Aber Triest, das war eine andere Sache. Jenes erneute, befreite Österreich, von dem ich so viel geträumt hatte, der freie Bundesstaat sich selbst regierender, mitteleuropäischer Nationen, war ohne Triest nicht möglich. […] Triest, der Hafen des österreichischen Mitteleuropa hatte kein Recht, sich in eine italienische Provinzstadt zu verwandeln […]. Wenn Österreichs Krieg irgend einen Sinn hatte, dann war es der, Triest österreichisch zu erhalten.“ Mit dem Zusammenbruch und der Auflösung der Monarchie war dieser Traum geplatzt, der Anschluss an Deutschland schien Bermann die einzige Überlebenschance für den deutschsprachigen Teil des ehemaligen Cisleithanien.

Das spannungsgeladene Warten auf die Friedensbedingungen wird durch das erste Zusammentreffen der Delegierten Mitte Mai unterbrochen. „[V]orläufig kennt die Entente nur ein unbestimmtes Österreich, das nicht existiert. Wahrscheinlich werden unsere Vertreter darauf bestehen müssen, nicht als Delegierte Österreichs, sondern als Delegierte der neuen und nicht kompromittierten deutschösterreichischen Republik behandelt zu werden“, schreibt Bermann dazu.

Die Hoffnung auf eine solche Behandlung sollte sich nicht erfüllen. Beim Betreten jenes Saals für ausgestorbene Tierarten, in dem den Österreichern am 2. Juni der Vertragsentwurf überreicht wird, kommt es gleich zu Beginn zu einem unerfreulichen Wiedersehen. Die tschechischen, polnischen, rumänischen und jugoslawischen Konferenzteilnehmer sind alte Bekannte, mit denen man gemeinsam im österreichischen Parlament gearbeitet hat. Nun sehen sie „mit berechneter Steifheit über die einstigen Kollegen und Landsleute hinweg.“ Als der Dolmetsch Clemenceaus Ansprache übersetzt und dabei das Wort „Deutschösterreich“ verwendet, habe ihn Clemenceau angebrüllt, es heiße „Österreich“, erinnert sich Bermann. Damit war die letzte Hoffnung, der junge Staat werde nicht als Erbe der untergegangenen Monarchie und damit als Kriegsschuldiger betrachtet, im Juni 1919 endgültig dahin.

Als die Bedingungen für den Friedensvertrag bekannt werden, zu denen neben den neuen Grenzen auch der Verlust aller Vermögenswerte außerhalb dieser Grenzen, Reparationszahlungen, sowie das Anschlussverbot an Deutschland zählen, macht sich in Österreich Verzweiflung breit. „Trauerfahnen müssen herausgehängt werden. Aber wozu solche Äußerlichkeiten? Mag jeder still sich dem Kummer hingeben, wenn er liest, welcher verelendete und verkrüppelte Staat durch die Beschlüsse der Friedenskonferenz entstehen soll“, schrieb die „Neue Freie Presse“ am 3. Juni 1919.

Bemerkenswert ist der Leitartikel des „Neuen Tag“: „Das Österreich, das Krieg geführt hat, ist ausgelöscht aus dem Buch des Lebens. Mit ihm kann kein Friede geschlossen, kein Vertrag vereinbart werden. Die deutschen Menschen, die auf dem Boden des alten Österreich leben, haben ihre Vertreter nach Saint Germain gesandt, nicht um für „Österreich“ zu paktieren. […] Sie sind gekommen, um zu vernehmen, wie sie einen neuen Staat aufbauen sollen, einen Staat der Ordnung, der Freiheit und der Arbeit. Sie sind gekommen als die Zeugen gegen ein Regime der Gewalt und des verbrecherischen Leichtsinns und man bietet ihnen, bietet der Welt das grauenvolle Schauspiel, daß viel ärgere Gewalt, viel verbrecherischer Leichtsinn triumphieren, als sie je gekannt haben.“ Der Artikel endet in düsteren Prophezeiungen: „Furchtbar muß diese Saat von Haß aufgehen. Geschändet ist das Recht und die rohe Gewalt erhebt sich zu einem grauenvollen Triumph. Wehe den Siegern!“

Auch innerhalb der österreichischen Delegation hat Katastrophenstimmung die Langeweile abgelöst. Der erste Eindruck sei ein „niederschmetternder“ gewesen und habe „die schlimmsten Befürchtungen noch übertroffen“, berichtete der aus Tirol mitgereiste Franz Schumacher angesichts der Grenzziehung zu Italien, die teilweise noch über die Wasserscheide hinausging. Heinrich Lammasch, der international geachtete Völkerrechtler, Friedensaktivist und letzte Ministerpäsident der cisleithanischen Reichshälfte Österreich-Ungarns „fing verzweifelt zu weinen an“, schreibt Bermann in seiner Autobiographie. Der „herrliche alte Mann“ sei „bald nach der Friedenskonferenz, die er entrüstet verlassen hat, an gebrochenem Herzen gestorben.“ Auch Bermann reiste frühzeitig aus Saint-Germain ab.

 

Hundert Jahre später ist es in der Stadt westlich des Bois de Boulogne längst wieder langweilig wie eh und je, nichts erinnert mehr an die aus österreichischer Sicht so dramatischen Stunden des Frühjahrs von 1919. Das Städtchen oberhalb einer Geländekante, die einen einzigartigen Ausblick über die Mäander der Seine und den Westen von Paris bietet, zählt zu den reichsten Gemeinden Frankreichs. Seine internationalen Schulen genießen einen hervorragenden Ruf und ziehen ein internationales Publikum an, das sich die kostspielige Ausbildung für den Nachwuchs leisten kann. Das Schloss, das unter König Franz I. von der Ritterburg zum Renaissancepalast umgebaut wurde, ist berühmt für seinen prachtvollen Arkadenhof und seine 1238 fertiggestellte Sainte Chapelle, eine fast baugleiche Vorläuferin der ungleich bekannteren Kapelle auf der Pariser Ile de la Cité. Bereits im 19. Jahrhundert wurde das Schloss zum nationalen Museum für Archäologie. Der Saal, in dem der Friedensvertrag mit der jungen österreichischen Republik unterzeichnet wurde, ist heute keltischen Ausgrabungen gewidmet, in Vitrinen sind Fragmente von Musikinstrumenten und Tierfigürchen zu sehen, im Zentrum des Saales ein kunstvoller Mosaik-Fußboden aus dem dritten Jahrhundert nach Christus. Der auf einem Wegweiser angebrachte Hinweis auf die Vertragsunterzeichnung im Jahr 1919 ist die einzige Erinnerung an die damaligen Ereignisse.

Im Museumsarchiv gibt es noch ein wenig mehr zu sehen: Ein Foto zeigt den Rokoko-Schreibtisch, auf dem der Vertrag unterzeichnet wurde, eine alte Postkarte beweist, dass Richard Bermann in seinen farbigen Schilderungen nichts erfunden, sich höchstens in Details geirrt hat: Den antiken Krieger mit Clemenceau-Schnauzbart gab es tatsächlich, nur war er keine Mumie, sondern eine Wachsfigur – und es handelte sich um keinen Kelten, sondern um einen Franken. Die Inschrift oberhalb des Saaleingangs kann man auf in digitalisierter Form verfügbaren Aufnahmen nachlesen. „Silex travaillés associés à des ossements d’animaux d‘espèces éteintes“ steht dort, also in etwa „Bearbeiteter Feuerstein in Verbindung mit Knochenfunden ausgestorbener Tierarten“ – Die Frage, ob es sich bei der Wahl dieses Saales nun um eine subtile Bosheit der Sieger handelte oder schlicht um einen Zufall, bleibt offen.

Das Zentrum von Saint Germain ist heute so sauber herausgeputzt wie auf den alten Fotos, die Fassaden aus Ocker und Sandstein frei von Graffiti, die Boutiquen elegant, die Feinkostläden erlesen. Im späten Frühling herrscht eine Atmosphäre wie in einem Badeort, vielleicht ist es die Lage an der Geländekante, die ein ähnliches Gefühl von Weite auslöst. Wie Ferien vom Elend der Kriegs- und Nachkriegsjahre muss sich Saint Germain auch damals für die aus Wien angereiste Delegation angefühlt haben, glaubt man Bermanns Memoiren. Vor allem die mitgereisten Journalisten genossen ihre Einkaufstouren in die Stadt trotz strenger Bewachung. „Das Einkaufen war an sich eine Wonne; wir armen Österreicher, die wir in der Tat in den letzten Jahren nichts als „Ersatz“ genossen hatten, fühlten uns wie im Schlaraffenland, in einer Stadt, in deren Läden die Anzüge nicht aus Papier waren, die Hemden nicht aus Brennesselstoff, in der es, kurz gesagt, für Geld alles zu kaufen gab – außer einen Kragen für unseren Staatskanzler, dessen enorme Halsweite in St. Germain nicht üblich war.“ Die Geschäftsleute waren die ersten, die die neuen Kunden ins Herz schlossen – Handel verbindet, so war das schon immer. „Während wir am ersten Tag, wenn wir eines der Geschäfte an der Hauptstraße des Städtchens betraten, von den Besitzern und Verkäufern wie wilde Tiere angestarrt und kaum mit der gewöhnlichsten Höflichkeit bedient wurden, waren am zweiten Tag schon die gegen Deutschland und seine Verbündeten aufreizenden Plakate verschwunden, die in den Geschäften gehangen waren, und nach einiger Zeit wurden wir von den braven Geschäftsleuten von St. Germain behandelt wie geliebte und lang verlorene Brüder.“

Nicht nur in der öffentlichen Wahrnehmung veränderte sich das Bild, das die längst nicht mehr als „Austro-Boches“ beschimpften Delegationsmitglieder abgaben. Als sie anreisten, wollten die Vertreter der wenige Monate alten Republik alles sein, bloß keine „Österreicher“ – doch genau das mussten sie in Saint Germain werden, um es mit unterschriebenem Friedensvertrag wieder verlassen zu können. So betrachtet ist die französische Stadt der Geburtsort des modernen Österreich.

„Das heutige Staatsgebilde ‚Österreich‘ verdankt sein Entstehen, seine Grenzen und seinen Namen dem Friedensvertrage von Saint Germain. Von der ehemaligen Reichshälfte Österreich hat es nur einen ganz geringen Gebietsteil erhalten, politisch hat es mit dieser nichts zu tun“ steht auch auf der ersten Seite eines Wälzers mit dem Titel “Neu-Österreich. Das Werk des Friedens von St. Germain“, ein Zufallsfund in einem Wiener Altwarenladen, erstmals erschienen 1923. Das Buch versteht sich als eine Art Standortbestimmung des jungen Landes und als „nachdrücklicher Protest an das Weltgewissen“. Die Autoren der darin enthaltenen Aufsätze sind Professoren, hohe Beamte und Regierungsräte, ihre Aufsätze erklären und kritisieren den Vertragstext und die Grenzziehungen, ergehen sich in schwülstigen Beschreibungen diverser Volkscharaktere oder preisen recht unverblümt die touristisch verwertbaren Kultur- und Naturschätze dieses „Neu-Österreich“ an. Eine kuriose Mischung, aber doch auch ein Schlaglicht auf die Schwierigkeiten, die wohl nicht nur die Autoren des Bandes, sondern auch viele Bewohner der jungen Republik damit hatten, eine positive Beziehung zum neuen Staat zu knüpfen.

Karl Brockhausen, ein Verwaltungsjurist, den bereits Karl Kraus in seinem Weltkriegsdrama „Die letzten Tagen der Menschheit“ wegen seines pathetisch-weihevollen Patriotismus verspottet hatte, lässt im ersten Kapitel seiner Trauer um das verlorene Vielvölkerreich freien Lauf: „Vom Bodensee bis nach Orsova, von Bodenbach bis Cattaro konnten Menschen und Güter unbelästigt durch Paßrevisionen und Zölle sich frei bewegen; sie konnten die Gletscherlandschaften der Alpen, die Waldgebirge der Karpathen und die Adria ungehemmt besuchen; deutsche, romanische, slawische Kulturschätze und völkische Eigentümlichkeiten waren wie in einem Museum zugänglich; es war eine Quelle materiellen Gewinnes und geistiger Anregung. Der Österreicher nannte ein Vaterland sein, das an Schönheit und Mannigfaltigkeit nicht seinesgleichen hatte in Europa, nicht auf der Erde.“

Die „europäische Bedeutung und der wahre Wert Österreichs“ bis 1918 lagen für Brockhausen in der „Symbiose der Nationen“, die es darstellte und deren Konflikte es schrittweise zu lösen imstande gewesen sei. Zumindest in letzterem Punkt wird Brockhausen durch jüngere Publikationen zum Habsburgerreich, etwa von Christopher Clark und Pieter M. Judson, durchaus bestätigt.

Der Vertrag von Saint-Germain-en-Laye verwies jedoch nostalgische Schwelgereien endgültig ins Reich der Träume, wie er auch dem Anschluss an Deutschland und der immer wieder aufgetauchten Vision einer Donaukonföderation eine Absage erteilte. Am 10. September 1919 erhielt die Republik ihren Namen und ihre heute von manchen regelrecht fetischisierten Grenzen – beides in dieser Form gegen den Willen der Vertreter und der Bewohner der Republik. Entsprechend schwierig und langwierig verlief das österreichische nation building.

Im kollektiven Gedächtnis Österreichs ist das Gründungsdokument der Republik nicht verankert. Es wird keine Feierstunde und keine Reden der Staatsspitze zum hundertjährigen Jubiläum der Unterzeichnung geben, keine Sonderausstellung zum Jahrestag ist im neuen „Haus der Geschichte Österreich“ geplant. Auch im September 1919 herrschte keine Feierstimmung. Das Entsetzen war stummer Resignation gewichen. „Ein erschütterndes Merkmal dieser unserer Zeitläufe ist die vollkommene Gleichgiltigkeit [sic], mit der die Bevölkerung Deutschösterreichs die Unterzeichnung des Friedenvertrages aufgenommen hat“, schreibt der „Neue Tag“. „Dieser Staat, der so ganz auf die Staatsgesinnung, die Staatsfreude seiner Bürger angewiesen ist, kann er wirklich auf solche Gefühle rechnen? Die Wahrheit ist, daß wir […] nichts von dem haben, was so recht das Wesen eines freien Volksstaates ausmacht: nichts von jenem Bewußtsein der Gemeinsamkeit, von dem Stolz auf den Mitbesitz an der Res publica, nichts von jenem wahren, weil phrasenlosen Patriotismus, der Republiken groß macht.“

Den Vertrag selbst, der so wenig Freude auslöste und der doch so bedeutend für die Entstehung Österreichs ist, gibt es physisch nicht mehr. Er war von den Nationalsozialisten nach ihrem Sieg über Frankreich nach Berlin gebracht worden, wo er im Bombenhagel verbrannte. Angesichts der Leerstelle in der österreichischen Erinnerungskultur, die er bildet, mag das auf eine unheimliche Weise passend erscheinen. Im Land Sigmund Freuds sollte man aber wissen, dass Verdrängung nicht die Lösung sein kann. Im Haus der Geschichte wird anlässlich des Nationalfeiertags im kommenden Herbst die Ostarrichi-Urkunde präsentiert, um ihre identitätspolitische Nutzung durch die in den Grenzen von 1919 wiederrichtete Republik zu erklären. Eine leere Vitrine für den verdrängten ersten Staatsvertrag hätte da sicher auch noch Platz gehabt.

 

Literatur:

Richard A. Bermann alias Arnold Höllriegel: Die Fahrt auf dem Katarakt. Eine Autobiographie ohne einen Helden. Wien: Picus 22000

Marion Dotter u. Stefan Wedrac: Der hohe Preis des Friedens. Die Geschichte der Teilung Tirols 1918-1922. Innsbruck, Wien: Tyrolia 22019

Eduard Stepan (Hg.): Neu-Österreich. Seine Kultur, Bodenschätze, Wirtschaftsleben und Landschaftsbilder. Amsterdam, Wien: S. L. Van Looy 1923

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.