Noten messen keine Leistung

„NOTEN MESSEN KEINE LEISTUNG“

Die neue, schwarz-blaue Regierung will wieder Noten ab der ersten Klasse einführen. Was sagen Experten und Betroffene dazu?

LERNDOKUMENTATION: GEORG RENÖCKL | STADTLEBEN | aus FALTER 49/17 vom 06.12.2017

 

Als Felix im Juni den Großeltern sein erstes Volksschulzeugnis zeigte, blieb der erwartete Geldregen aus. Oma und Opa wollten Einser sehen, doch da stand nur: „Informationen zum Erreichungsgrad der Kompetenzanforderungen sind der Dokumentation zu entnehmen.“ Auch das Wort „Zeugnis“ suchten sie auf dem nunmehr „Jahresinformation“ genannten Papier vergeblich. Erst die in höchster Not herbeigerufenen Eltern bestätigten, dass die meisten Hakerln in der Lernfortschrittsdokumentationsmappe, die Felix‘ Lehrer mit ihnen und ihrem Sohn durchgeackert hatte, eh in der Spalte „Das kann ich besonders gut“ waren und nur ganz wenige bei „Das muss ich noch üben“. Opa zückte schließlich doch noch die Brieftasche.

Ab nächstem Sommer könnte es für Felix einfacher werden, ans Zeugnisgeld zu kommen: ÖVP-Chef Sebastian Kurz und FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache verkündeten letzte Woche, dass die künftige Bundesregierung wieder verpflichtend Noten ab der ersten Klasse Volksschule einführen wird -mit dem derzeitigen „linken Schulsystem“ sei es jetzt nämlich vorbei. O-Ton Strache: „Die Leistung wird da gar nicht mehr gefordert, und am Ende gibt’s keine Noten, und am besten, du gehst danach sofort in die Mindestsicherung.“

Wo Strache recht hat: Tatsächlich sind die traditionellen Ziffernnoten in den letzten Jahren aus vielen Volksschulklassen verschwunden, vor allem in den ersten beiden Schulstufen. Sie wurden durch „alternative Formen der Leistungsbeurteilung“ ersetzt (siehe Marginalspalte). Was der FPÖ-Chef hingegen nicht so genau verstanden hat: Der Verzicht auf Noten ist kein Verzicht auf Leistung und deren Kontrolle.

Drei „alternative Formen der Leistungsbeurteilung“ sind mit dem Schuljahr 2016/17 für die ersten drei Schulstufen ins Regelschulwesen aufgenommen worden: die Kommentierte Direkte Leistungsvorlage, die Lernfortschrittsdokumentation und das Pensenbuch (siehe Marginalspalte).

Die derzeit durch viele Medien geisternde „verbale Beurteilung“ ist hingegen seit 2016 abgeschafft: „Die wurde von den Lehrkräften so unterschiedlich gehandhabt, dass man sich dagegen entschieden hat“, erklärt Max Steiner, der im Wiener Stadtschulrat für Schulversuche und Schulentwicklung zuständige Referent. „Die jetzt zur Wahl stehenden Formen wurden über viele Jahre in zahlreichen Schulversuchen entwickelt und laufend adaptiert, ehe man sie ins Regelsystem übernommen hat“, hält Steiner fest und verweist auf die Beliebtheit dieser Formen: „In Wien hat gut die Hälfte der Klassen in den ersten beiden Volksschuljahren alternative Formen statt Ziffernnoten gewählt.“ Das lasse auf hohe Zustimmung bei den Eltern schließen: „Damit eine Klasse umsteigen kann, muss das vom Klassenforum mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden.“

Alternative Noten können ganz schön komplex werden. Über 200 Teilkompetenzen sind in Felix‘ Lernfortschrittsdokumentation eingetragen, „Ich kann im Zahlenraum 10 addieren“ etwa oder „Ich kann einen Ball auf verschiedene Arten werfen und fangen“. Andere Kinder in Felix‘ Alter bringen Pensenbücher oder KDL-Mappen nach Hause. Gemeinsam haben alle „alternativen Formen der Leistungsbeurteilung“ auf den ersten Blick, dass offenbar viel mehr und viel genauer bewertet wird als früher, auch wenn es statt der Noten Smileys gibt oder kurze Sätze wie bei Felix. Was bringt das eigentlich, und was ist abgesehen von der Genauigkeit der Unterschied zu den althergebrachten Noten?

„Beim kompetenzorientierten Unterricht ist der Fokus nicht auf den Stoff, sondern auf das Kind gerichtet. Die Lehrer müssen sich fragen: Was kann das Kind schon? Was braucht es noch?“, erklärt Andrea Valerija-Berger, die an der Pädagogischen Hochschule Wien angehende Volksschullehrerinnen und -lehrer ausbildet. Sie ist seit etwa 20 Jahren an der Entwicklung der Bildungsstandards in Mathematik beteiligt.

Die damit verbundene Kompetenzorientierung erfordere ein grundsätzliches Umdenken bei der Planung des Unterrichts. Auch die Kinder müssen nun von Anfang an besprechen und begründen, was sie gerade tun. Das fördere das kritische Denken und helfe auch leistungsstärkeren Kindern: „Individualisierung ist jetzt leichter möglich als früher, weil Fortschritte sichtbarer werden und der Unterricht flexibler gestaltet werden kann.“ Doris Kurtagic-Heindl, die ihr Büro am gleichen Gang hat und Fachdidaktik Deutsch unterrichtet, ergänzt: „Noten beurteilen punktuell und dienen der Selektion. Darüber hinaus sagen sie wenig aus.“ Gerade in den ersten Klassen seien die Kinder sehr unterschiedlich weit in ihrer Entwicklung. Dem könne die Kompetenzorientierung Rechnung tragen. Durch Noten würden langsamere Lerner hingegen mitten im Lernprozess bewertet. „Das ist kontraproduktiv und leistungshemmend.“

Dass Noten wenig bringen, glaubt auch Stefan Hopmann, Professor für Bildungswissenschaften an der Uni Wien. Er findet sie aber auch nicht sonderlich tragisch, jedenfalls „solange man sie nicht ernst nimmt“. Davon rät der Forscher dringend ab, denn: „Noten messen keine Leistung. Sie sind ein Kommunikationsmittel, das Auskunft darüber gibt, wie sich ein Kind in der Schule bewährt.“

Die Vorstellung von „Notenwahrheit“ sei ein Irrglaube: „Wir wissen doch alle, dass ein großer Teil der Einser-Zeugnisse das Papier nicht wert sind, auf das sie gedruckt wurden.“ Die Wiedereinführung von Noten ist für den Wissenschaftler für sich genommen weder ein Fortschritt noch eine Katastrophe, sondern Symbolpolitik -und daher keineswegs folgenlos: „Da verschiebt sich gerade ein Diskursraum.“

Hinter den angekündigten Maßnahmen stehe vor allem der Wunsch nach stärkerer sozialer Segregation: Deutschklassen für Migrantenkinder zeigen das deutlich, doch auch öffentliche Lehrer- und Schulrankings würden zu einem Auseinanderdriften von „guten“ Schulen für Bildungsbürger und „schlechten“ für die Schmuddelkinder führen. Das Urteil des Wissenschaftlers über die angekündigte Wiedereinführung von Noten ab der ersten Schulstufe ist eindeutig: „Ich hoffe, dass man diesen Schwachsinn noch verhindern kann.“

Hopmann kritisiert aber auch die derzeit geltende Kompetenzorientierung scharf. Er sieht darin einen -in der Geschichte bereits mehrfach gescheiterten -„Versuch, Kinder wie optimierbare Gegenstände oder wie Projekte zu betrachten“. Man gehe davon aus, dass einzelne Kompetenzen wie Muskeln trainiert werden können, doch „empirisch betrachtet ist das Humbug. Ein Kind lernt keine Einzelkompetenzen.“ Durch die feinen Raster entstehe vielmehr Pseudoobjektivität: „Das Ankreuzen ist genauso beliebig wie die Note.“ Der grassierende Perfektionierungswahn ist für Hopmann ein Symptom für eine Gesellschaft, die Angst hat -„und davon lebt wiederum eine riesige Bildungsindustrie, die vorgaukelt, das Schräubchen zu kennen, an dem man drehen muss, und schon werden die Pisa-Ergebnisse besser und die Wirtschaft brummt wieder“.

Das Bild mit den Schräubchen könnte auch von Verena stammen, die zu Beginn des Gesprächs einen Stapel Papier auf den Kaffeehaustisch knallt und die Blätter danach nur mit spitzen Fingern angreift. Es sind die Kompetenzraster, mit denen die Volksschullehrerin seit letztem Herbst ihre Kinder beurteilen soll.

„Wenn das jetzt so gemacht werden muss, dann will ich gar nicht mehr Lehrerin sein“, sei ihr erster Gedanke gewesen, als sie den Stapel zu Beginn des letzten Schuljahres zum ersten Mal durchblätterte. Sie findet die Behelfe schwammig formuliert, banal, langweilig -keinesfalls möchte sie so arbeiten.

Dabei erkennt man in Verena, hört man sie nur eine Minute über ihren Beruf sprechen, genau die Lehrerin, die sich wohl jeder für seine Kinder wünschen würde: Begeistert erzählt sie von der Wanderung durch ein Bachbett, die sie neulich mit ihrer Klasse gemacht hat, und davon, wie wichtig es ist, dass Volksschüler auch einmal nass und dreckig werden. Oder davon, dass Kinder möglichst oft auf Bäume klettern und dabei auch manchmal hinunterfallen müssen, weil sie sonst vieles vom Wichtigsten versäumen, das zur Kindheit dazugehört. Sie besteht darauf, einen Adventkranz mit echten Kerzen in ihrer Klasse zu haben, auch wenn das eigentlich verboten ist. Als ausgebildete Montessoripädagogin und erfahrene Integrationslehrerin kann sie theoretisch fundiert über kindliches Lernen sprechen, brennt aber auch nach 20 Jahren noch mit unverbrauchter Intensität für ihren Beruf.

Für sie ist das ausführliche Gespräch zwischen Eltern, Kind und Lehrerin die einzig sinnvolle Variante der Leistungsbeurteilung: So sei sichergestellt, dass alle Beteiligten genau wissen, was in dem Jahr passiert ist und wo das Kind steht. Mit der seit 2016 vorgeschriebenen Standardisierung des Gesprächs kann sie jedoch herzlich wenig anfangen: „Kinder sind doch keine Maschinen!“

Und die Rückkehr zu den Noten? Kommt das Gespräch auf diesen Punkt, nähern sich die zuerst so unterschiedlichen Standpunkte der Verfechter und der Kritiker der Kompetenzorientierung, der Theoretiker und der Praktiker schlagartig an: Noten können weder die Komplexität des Lernprozesses abbilden, noch haben sie etwas mit Leistung zu tun, ist auch Verena überzeugt: „Die Kinder geben ohnehin ihr Bestes, gerade die Schulanfänger.“ Diese brauchen unterschiedlich lang, „um in der Schule anzukommen“ – da benötigen sie Unterstützung, keine demotivierenden Vierer oder Fünfer.

„Ich würde mir ein einziges Mal in meiner Berufslaufbahn eine Neuerung wünschen, die uns die Arbeit erleichtert und nicht erschwert“, sagt Verena mitten im Gespräch mit einem Stoßseufzer. Dass sie diesen Moment bald erleben wird, glaubt sie nicht.

Kasten

Alternative Beurteilungen: Das Pensenbuch bietet einen relativ kompakten Überblick, die Lernfortschrittsdokumentation listet die einzelnen Teilkompetenzen detailliert auf. Bei der Direkten Leistungsvorlage sammeln die Kinder ihre Arbeiten selbst in einer Mappe, die sie dann präsentieren. Bei den alternativen Formen ist -im Gegensatz zu Ziffernnoten -ein Gespräch gesetzlich vorgeschrieben, bei dem Eltern, Lehrerin und Kind die Ergebnisse gemeinsam durchgehen

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