Endlich erschienen – ein wiederentdeckter Roman von Gina Kaus (NZZ-Feuilleton vom 07.03.2015)
Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe
Gina Kaus’ Roman «Die Front des Lebens»
Georg Renöckl «Was haben sie uns versäumen
lassen», so ärgert sich Marlene Streeruwitz im Vorwort.
«Sie», das waren zuerst die Nationalsozialisten,
die die Bücher der jüdischen Wiener Autorin
Gina Kaus verbrannt haben, und später dann eine
Öffentlichkeit, die es verhindert oder verschlampt
hat, sich ihre Texte wieder zurückzuholen. Nun
endlich ist es so weit: Mit dem Roman «Die Front
des Lebens», 1928 in Fortsetzungen in der «Arbeiterzeitung
» erschienen, liegt einem breiteren Lesepublikum
zum ersten Mal seit der Flucht der Autorin
im Jahr 1938 eine grosse Arbeit von Gina Kaus
vor (2000 erschien unter dem Titel «Die Unwiderstehlichen
» eine Auswahl kleiner Prosa).
Es ist ein prachtvoller Familien- und Gesellschaftsroman
rund um eine kurz vor dem Ersten
Weltkrieg ins Grossbürgertum aufgestiegene Industriellenwitwe,
die in der zerbröselnden Gesellschaft
der ruinierten ehemaligen Kaiserstadt versucht
zu retten, was zu retten ist: Status, Vermögen,
die Perspektive auf eine zweite Ehe, den Liebhaber,
die Zukunftsaussichten für die Kinder und
nicht zuletzt ihre welkende Schönheit.
Die mitunter schmonzettenhafte Anmutung des
Textes täuscht: Hier ist eine Erzählerin am Werk,
die ihre Figuren mit einer gekonnten Mischung aus
Ironie und Empathie sowie viel psychologischem
Gespür dem Untergang entgegentaumeln lässt.
Vor allem die Männer wirken wie Untote; die geschlagenen
Soldaten sind ihren Familien entfremdet,
alte Konventionen und Ideale dahin, Adel und
Vermögen wertlos geworden. Ungleich energischer
kämpfen die Frauen an der «Front des
Lebens», werden von ihren kraftlosen Partnern
aber mit in den Abgrund gezogen. Marlene Streeruwitz
sieht in Gina Kaus’ Roman nichts Geringeres
als eine «weibliche Gegengeschichte zu den
Anatols der Wiener Literatur». Wenn das keine
dringende Lektüreempfehlung ist!
Gina Kaus: Die Front des Lebens. Mit einem Vorwort von Marlene
Streeruwitz. Metroverlag, Wien 2014. 380 S., Fr. 35.40