Für mich eines der stärksten Bücher dieser Saison: Maylis de Kerangals neuer Roman rund um den Hirntod eines jungen Mannes: „Die Lebenden reparieren“, hier für die NZZ besprochen.
Dieses Buch ist so gut, dass man es nicht uneingeschränkt empfehlen kann: Maylis de Kerangals Roman «Die Lebenden reparieren» wartet zwar mit einem mitreissenden Leseerlebnis auf, man wird sich danach mit hoher Wahrscheinlichkeit aber auch ziemlich mitgenommen fühlen. Das Ereignis, dessen Ablauf hier systematisch und aus allen erdenklichen Blickwinkeln vor Augen geführt wird, kennen wir so oder so ähnlich aus den alltäglichen vermischten Meldungen. Gleichzeitig zählt es für viele zu den Urängsten, gegen die es keinen Schutz gibt. Worum es geht? Um den Hirntod eines Neunzehnjährigen nach einem schweren Autounfall. Um seine intakten Organe, die andere Leben retten können. Um Eltern, Ärzte, Krankenschwestern. Um genau vierundzwanzig Stunden prallen Lebens, in dessen Zentrum der Tod steht.
Reihum folgt die Erzählerin zunächst dem begeisterten Wellenreiter Simon und seinen Freunden zu einem frühmorgendlichen Surf-Ausflug, danach denjenigen, die vom Unfall der jungen Leute auf dem Rückweg unmittelbar betroffen sind. Die Vorgeschichte bleibt weitgehend ausgespart, denn «was Simon Limbres‘ Herz gefiltert, aufgezeichnet, archiviert hat, Blackbox eines zwanzigjährigen Körpers, das weiss niemand so genau». Die Beschränkung auf den kurzen, aber dramatischen Zeitabschnitt macht den Roman ähnlich einer Herztransplantation zum «Ablauf von hoher Präzision in einer festgelegten Zeit», sie trägt wie die Vielfalt der Perspektiven zur Faszination dieses ungemein dichten Texts bei. Der ständige Perspektivenwechsel ist aber auch eine schlichte Notwendigkeit: Anders liesse sich die Abfolge der unerträglichen Momente, aus denen dieser Tag für Simons Eltern besteht, wohl kaum aushalten; beginnend beim Anruf aus dem Krankenhaus, den insgeheim wohl viele Eltern schon einmal gefürchtet haben, irgendwann am frühen Sonntagmorgen bis zum Satz, der der Organentnahme vorangeht: «Sie bekommen den Körper Ihres Kindes morgen früh zu sehen.»
So aber beschränkt sich «Die Lebenden reparieren» nicht auf die Tragik des tödlichen Unfalls eines viel zu jungen Menschen und die Verzweiflung seiner Eltern, die schon lange getrennt leben, mit dem brutalen Verlust aber gemeinsam fertigwerden müssen. Maylis de Kerangal erzählt auch und vor allem von den vielen Leben, die durch die Katastrophe in engen Kontakt kommen: von Thomas, der für die Koordination von Organspenden zuständig ist, nebenbei Philosophie studiert und leidenschaftlich singt. Von Cordelia, der Krankenschwester, die in ihrem Beruf aufgeht, aber auch gerade den stürmischen Neubeginn einer gescheitert geglaubten Liebesaffäre erlebt. Oder von der schwerkranken Claire, die mit ihren drei Söhnen halb angst-, halb hoffnungsvoll auf den Moment wartet, in dem ein Spenderherz ihr die lebensrettende Operation ermöglicht.
Claires gemischte Gefühle versteht die Erzählerin genauso glaubhaft spürbar zu machen wie das tiefe Glück, das Thomas beim Singen und Simon beim Surfen verspüren, die süsse, immer wieder aufflackernde Erinnerung Cordelias an die vorangegangene Nacht, deren Spuren am nächsten Tag noch sichtbar sind, sowie das Leid und die Selbstvorwürfe der Eltern Simons. Bereits in den ersten Zeilen dieses Romans wird klar: Hier ist eine Erzählerin am Werk, die ihr Handwerk meisterhaft beherrscht. Langgestreckte Sätze von konzentrierter Schönheit ziehen ihre Leser in den Bann und geben sie bis ans Ende der vierundzwanzig aufreibenden Stunden, von denen sie erzählen, nicht mehr frei. Maylis de Kerangal folgt ihren Figuren mit viel Empathie, aber ohne Pathos, und legt deren intimste Gedanken offen, ohne es an Takt fehlen zu lassen oder sie in ihrer Würde zu verletzen. Sogar für die eine oder andere zartbittere Ironie findet sie den richtigen Moment, wenn es auch schade ist, dass gerade diese in der sonst makellosen deutschen Übersetzung oft abgeschliffen wird – etwa wenn hier ein Speckröllchen unerwähnt bleibt oder da die Spannkraft von Beckenböden höchst ungenau als Straffheit von Bäuchen wiedergegeben wird.
«Die Lebenden reparieren» ist nicht nur das ergreifende Protokoll eines viel zu frühen Todes und seiner unmittelbaren Folgen, sondern auch eine Hymne an die körperliche Lust am Leben in all ihren Schattierungen, wie man sie in dieser Intensität schon lange nicht mehr gelesen hat.
Maylis de Kerangal: Die Lebenden reparieren. Roman. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Suhrkamp, Berlin 2015. 255 S., Fr. 28.50.