Ein unheimlich guter, immens spannender Pageturner in Zeitlupe: Laurent Mauvigniers „Geschichten der Nacht“, besprochen für Ex libris auf Ö1:
Mit Mut zu langen Sätzen, Wissen um die Macht verdrängter Traumata und einem feinen Ohr für die Ungeheuerlichkeiten, die sich hinter Alltagsphrasen verbergen können, wurde Laurent Mauvignier auch im deutschen Sprachraum bekannt. In seinem 2011 auf Deutsch erschienenen Roman Die Wunde drängen jahrelang unterdrückte Erinnerungen an den Algerienkrieg an die Oberfläche. In der auf einer Zeitungsnachricht beruhenden Novelle Was ist ein Leben wert? erzählt der Autor zwei Jahre später in einem einzigen, 75 Seiten langen Satz von der nach einem Bagatelldelikt erfolgten Tötung eines Mannes durch die Security-Mitarbeiter eines Supermarktes.
Geschichten der Nacht heißt der neueste Roman des 1967 im westfranzösischen Tours geborenen Autors. Wieder wollen sich darin die Geister der Vergangenheit nicht verdrängen lassen, wieder stellt Mauvignier seine Meisterschaft in der Komposition seitenlanger Schachtelsätze unter Beweis und wieder zeigt er – auch in der gekonnten Übersetzung Claudia Kalscheuers – sein Gespür für die Nuancen der Sprache, etwa wenn es über den langsam verfallenden Weiler, in dem die Handlung angesiedelt ist, heißt: „So war es, niemand würde bleiben, La Bassée war sowieso nicht zu retten, das stimmte, aber zwischen nicht retten können und sich nicht darum scheren gab es einen kleinen Unterschied, den niemand zu sehen schien, weil niemand ihn sehen wollte.“
Patrice, der in diesem Weiler irgendwo in der französischen Provinz aufgewachsen ist, stemmt sich gegen den Untergang seiner bäuerlichen Welt. Aus dem blutigen Geschäft der konventionellen Landwirtschaft seines Vaters hat er eine kleine Käserei gemacht und über eine Dating-Plattform die Städterin Marion kennengelernt, die sich auf dem Land neu erfinden will. Tochter Ida ist im Volksschulalter, die Malerin Christine aus Paris, die der Familie ein Nebengebäude abgekauft und dieses zum Atelier umgewandelt hat, ist für das Mädchen eine ideale Ersatzgroßmutter.
Dass dieses Leben zwar schön sein könnte, aber leider nicht ist, wissen alle Figuren dieser Geschichte, die reihum aus ihren unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird. Auch Ida, deren Eltern sie noch vor der rauen Welt da draußen schützen wollen, hat längst begriffen, dass das vermeintliche Idyll, in dem sie aufwächst, keines ist – und dass Gefahren nicht unbedingt von außen drohen, sondern aus der anderen Richtung.
„[S]ie weiß genau, dass ihre Eltern glauben, sie höre sie nicht, wahrscheinlich denken sie, die Kindheit sei eine vom Leben der Erwachsenen hermetisch getrennte Welt, während sie tatsächlich viel mehr über sie weiß, als sie es sich vorstellen, und vielleicht mehr, als sie selbst übereinander wissen.“ Ida beobachtet ihre Mutter, wenn diese in dunkle innere Welten abdriftet, und muss dann ihre ganze Kraft aufwenden, um sie in die Gegenwart zurückzuholen. „Und wenn sie zurückkommt, leuchtet Marion auf und sagt, ja mein Schatz, Entschuldigung mein Schatz, es geht schon, ich habe vor mich hingeträumt, aber Ida weiß, wie die Dinge sich im Inneren einnisten wie das Ungeziefer in den Brettern, die in der Scheune vor sich hin modern, wie Insekten, die das Holz zerfressen, ohne dass man es bemerkt.“
Es gibt viel Vermodertes und Zerfressenes in den Seelen der kleinen Familie, über deren gemeinsamen Mahlzeiten meist bleiernes Schweigen lastet. Die Beziehung der Eltern ist kalt und distanziert geworden, Marion flüchtet auf langen Lokaltouren vor dem beengenden Familienleben. Patrice wird von wirtschaftlichen Sorgen gequält, seine sexuellen Bedürfnisse stillt er bei Prostituierten, was ihm die Reste seines ohnehin angeknacksten Selbstvertrauens raubt. Und dann kommt doch noch eine Gefahr von außen: Drei unheimliche Fremde tauchen mitten in den Vorbereitungen zum Fest für Marions vierzigsten Geburtstag auf und bringen die ohnehin schon bröckelnde, nur scheinbar heile Welt von La Bassée endgültig zur Implosion.
Mauvignier versteht es, in kleinen Schritten eine immer bedrohlichere Stimmung und dabei ungeheure Spannung entstehen zu lassen. Als klassischen Pageturner kann man den Roman dennoch nicht bezeichnen: Zum schnellen Weiterblättern sind die Sätze darin nämlich schlicht und einfach zu gewunden, sodass sie auch den ungeduldigsten Leser zur langsamen Lektüre zwingen. Sich dieser ausgeklügelten Folter zu unterziehen, bringt neben gesteigertem Nervenkitzel auch so manchen Erkenntnisgewinn. Mauvigniers Sätze sind nämlich nicht einfach nur lang und elegant, sondern vor allem auch gehaltvoll.
Christine reflektiert ausführlich über den Sinn ihrer Kunst und die Begegnung mit ihren eigenen Bildern. Patrice grübelt darüber nach, wie er verhindern kann, dass sich die in seiner Familie von Generation zu Generation weitergegebene Gewalt neuerlich Bahn bricht. Marion kämpft gegen patriarchale Strukturen im letzten Betrieb, der den Menschen der Region Arbeitsplätze bietet, wodurch die dort arbeitenden Frauen zu Freiwild für die Chefs werden. Die kleine Ida beobachtet die Welt der Erwachsenen mit einem kindlichen Blick, der nicht an den für sie bestimmten Fassaden hängenbleibt, sondern diese mühelos durchdringt.
Gewalt ist in diesem Roman kein Mittel zum Zweck, keine Würze, die einer ansonsten womöglich langweiligen Handlung etwas Pep verleiht. Gewalt in ihren unterschiedlichen Ausprägungen ist vielmehr das eigentliche Thema, um das dieser Roman kreist: Gewalt in Familien, psychologische Gewalt am Arbeitsplatz, strukturelle Gewalt in der Gesellschaft, vor allem aber Gewalt in Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Im packend erzählten Showdown bricht diese Gewalt eruptiv aus. Dennoch leuchtet gegen Ende einer Nacht, die zur Höllenfahrt zu werden drohte, inmitten rauchender Trümmer und malträtierter Körper ein erstaunlich starker Hoffnungsschimmer. Gewalt ist kein Schicksal, Familie nicht zwangsläufig ein Gefängnis, und die Geister der Vergangenheit mögen zwar oft furchterregend sein – doch unbesiegbar sind sie nicht.