Ein wie immer wunderschöner Roman von Andrea Winkler, diesmal sogar mit nacherzählbarer Handlung – hier eine Besprechung in der NZZ.
Andrea Winklers Romansatire
Geistlose Wissenschaften
Georg Renöckl ⋅ Lina Lorbeers Albträume haben sich verändert. Nun sind es keine im Sturm schwankenden Leitern oder Seeungeheuer mehr, die der Ich-Erzählerin nächtliche Ängste bereiten, sondern Partys. Dort kennt jeder jeden, ist doch «heutzutage nichts leichter, als sich zum Zwecke der Freundschaft ein wenig zu vernetzen». Während Lina im Traum versucht, vor dem Geschwätz der anderen Gäste zu fliehen – ausnahmslos Dichter und Moderatoren, deren Namen auf verschiedenen «Listen der Besten» prangen –, ruft ständig jemand ihren Namen, schneidet ihr den Weg ab, sichert Verständnis für ihre Schüchternheit zu, da es ihm ja genauso ergehe, und verwickelt sie in ein Gespräch, um unter dem Deckmantel geheuchelter Bescheidenheit die eigene Überlegenheit zu demonstrieren.
Noch im Traum begreift Lina, dass es sich dabei um eine Vision ihrer eigenen Zukunft handelt. Sie ist nämlich vor kurzem ins «Institut für Gedankenkunde und Verstehen» aufgenommen worden, beseelt vom Gedanken, zu «retten, was in den Hörsälen vom Geist übrig blieb». Doch dafür interessiert sich an diesem Institut ausser ihr niemand. Wichtiger sind laut Institutsleiter Professor Icks «Freunde» oder auch, wie Professorin Stein meint, die sich ausschliesslich in abgedroschenen Phrasen ausdrückt: ein «Sessel in einem Büro».
Als «Einbildungsroman» bezeichnet die für ihre musikalische Prosa bekannte Österreicherin Andrea Winkler ihren neuen Roman «König, Hofnarr und Volk» im Untertitel. Das Wortspiel ist genauso wenig harmlos wie der märchenhafte Ton, der den Roman durchzieht. Das Buch ist vielmehr eine bitterböse Abrechnung mit dem literarischen Leben und seinen Eitelkeiten sowie mit Geisteswissenschaften, die jeglichen Geist durch schematisches Denken vernichtet und durch Karriere- und Geltungsstreben ersetzt haben. Schliesslich geniesst jeder, der am Institut angestellt ist, ein gewisses Ansehen, «und zwar aus dem einfachen Grund, weil er hier beschäftigt ist». Was will man mehr?
Anleihen für ihren Roman hat die Autorin bei Georg Büchners «Leonce und Lena» genommen, wo eine ebenso märchenhaft-entrückte Kulisse als Tarnung für eine beissende Satire dient, sowie beim immer wieder zitierten Woyzeck. Wie Letzterer droht die verunsicherte Lina angesichts der übermächtigen, zynischen Menschen, von denen sie abhängig ist, seelisch zugrunde zu gehen. Professor Icks bedrängt sie beim Kuchenessen, von Professorin Stein wird sie zuerst umworben, dann angefeindet: Lina ist früh desillusioniert genug, um die in Aussicht gestellte Assistentenstelle abzulehnen, was Stein nicht verstehen kann. Die Studienkollegin, die an Linas Stelle den Posten bekommt und zum Schatten der Professorin wird, unternimmt später alles, um die vermeintliche Konkurrentin zu demütigen.
Trost findet Lina in Briefen an einen fernen Freund, dem sie ihre Gedanken und Ängste schildert. Diese glänzenden Passagen, in denen sie die Beschränktheit ihrer Professoren weit hinter sich lässt, ergänzen die Satire um genau das, was Lina so sehr an ihrem Institut vermisst: ein Nachdenken über die Sprache und über das Entstehen von Literatur, das sich nicht an vorgegebene Bahnen hält. Als Bild dafür wählt die Erzählerin nächtliche Eislaufpartien auf einem gefrorenen Strom, der aus der Stadt hinausführt und sie als Erste Spuren ins zart unter ihr krachende Eis schreiben lässt: «Unter mir wummert ein Riss, und ich summe mit dem Ton, ich summe die ganze Zeit über, während mich meine Beine übers Eis tragen, über die grosse, weite Fläche, mit den hauchdünnen Schneedecken hier und da.»
Die vorwurfsvolle Frage des Professors Icks an seine Studierenden, ob diese immer noch nicht wahrhaben wollten, dass ohnehin schon alles Wichtige gedacht und geschrieben worden sei, beantwortet Andrea Winkler auf ihre Art.
Andrea Winkler: König, Hofnarr und Volk. Einbildungsroman. Verlag Paul Zsolnay, Wien 2013. 192 S., Fr. 26.90.