Rezension aus dem Falter 11/21: https://shop.falter.at/detail/9783751805124/halbwahrheiten
Schlimmer als der Wurm im Apfel ist bekanntlich der halbe Wurm im Apfel. Mit der Wahrheit ist es genauso: Die Lüge kann widerlegt werden, die Halbwahrheit jedoch verdirbt alles. Sie verwandelt den sicheren Grund politischer Integrität in Morast, verwischt die Grenzen, innerhalb derer sich der öffentliche Diskurs entwickelt, und führt geradewegs ins postfaktische Universum, in dem Manipulatoren wie Donald Trump regieren. Die Spielregeln, die dort herrschen, nimmt die Basler Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess in ihrem Buch „Halbwahrheiten“ unter die Lupe. Mit Faktenchecks allein, so ihre These, komme man gegen die Halbwahrheit nicht an.
Sie entziehe sich den Kategorien „wahr“ und „falsch“. Wer sie einsetze, wolle vor allem gute, weil glaubwürdige Geschichten erzählen – die eben nicht völlig falsch sind. Wer Halbwahrheiten widerlegen will, muss ihnen daher immer auch teilweise recht geben. Doch komplexe Argumentationsmuster nach dem Schema „Ja, aber“ haben es in der öffentlichen Debatte schwer. Vor allem erweist sich ein Publikum, dessen Weltbild durch Halbwahrheiten bestätigt wird, als weitgehend immun gegen Fakten.
Es brauche daher keinen Fakten-, sondern einen Fiktionscheck, um den Strategien und Verfahren der Manipulatoren auf die Schliche zu kommen, so Gess. Und wer wäre dazu besser geeignet als die Literaturwissenschaft als Spezialistin für das Fiktionale? Womöglich schlägt in Zeiten konkurrierender Narrative ja tatsächlich deren Stunde. Gess erzählt eine kurze Literaturgeschichte der Halbwahrheit, von Johann Jakob Breitingers „Critischer Dichtkunst“ aus dem Jahr 1740 über die Romantik bis zu Benjamin, Adorno und Arendt.
Ihre Erkenntnisse erprobt sie danach an drei aktuellen Beispielen, die für drei Erscheinungsformen der Halbwahrheit stehen: dem als Hochstapler entlarvten ehemaligen Spiegel-Journalisten Claas Relotius, Ken Jebsen, der auf seinem Youtube-Kanal die Verschwörungstheorie von den Corona-Impfungen mit Mikrochip in die Welt setzte, und dem Autor Uwe Tellkamp, der Deutschland zur Gesinnungsdiktatur erklärte.
Einem gewissen Hang zu Schachtelsätzen zum Trotz legt Gess einen nicht nur lesenswerten, sondern auch gut lesbaren Essay vor. Sie zeigt darin nicht nur, dass die Literaturwissenschaft über das Werkzeug verfügt, Halbwahrheiten zu sezieren, sondern regt auch dazu an, dieses selbst in die Hand zu nehmen. Anschauungs- und Übungsmaterial für eigene Fiktionschecks findet sich ja gerade auch hierzulande zuhauf.
Georg Renöckl in Falter 11/2021 vom 19.03.2021 (S. 35)