Esprit und Elend

Gedichte und Geschichten der «vergessenen» Lili Grün

Esprit und Elend

Georg Renöckl 7.10.2014, 05:30 Uhr
Der Titel dieses Buches, «Mädchenhimmel!», klingt zunächst etwas irreführend: Die in dem Band versammelten Gedichte und Kurzgeschichten sind zwar luftig-leicht, voll Charme und lakonischem Witz. Sie handeln aber vor allem von Liebesleid, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und Unterernährung. «Man hat sich ein schlechtes Geburtsdatum ausgesucht, seit wir leben, sind die Zeiten gross, aber unangenehm», heisst es in einer der Geschichten, die das Berlin der späten zwanziger Jahre zum Schauplatz haben. Tausende Schauspieler ohne Engagement raufen sich dort in der Zeit der Weltwirtschaftskrise um die wenigen verfügbaren Jobs.

Unter ihnen ist die 1904 geborene Wiener Jüdin Lili Grün, die sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hält und in der Kabarettszene um Hanns Eisler Achtungserfolge erzielt. Der grosse Durchbruch bleibt ein Traum. Die meisten der von Herausgeberin Anke Heimberg zusammengetragenen Texte dürften auf der Kabarettbühne der «Brücke» vorgetragen worden sein und würden auch als Chansons gute Figur machen. Tonfall und Inhalt changieren zwischen krachend trockener Sachlichkeit, dem Wunsch, einmal «bisschen kitschig» zu sein, beissender (Selbst-)Ironie und Resignation angesichts der verzweifelten wirtschaftlichen Lage: «Mein kleiner Junge, kokettier‘ nicht mit mir, / Ich hab andere Sorgen. / Den ganzen Tag lauf‘ ich herum, / Um Geld für die Miete zu borgen.»

«Kleiner Junge» als Anrede für einen Flirt ist hier durchaus stimmig: Das Ich, das aus Lili Grüns Texten spricht und sich selbst einmal ein «erfahrenes Mädchen» nennt, ist eine moderne Frau, die zwar gern an «Gott und die grosse Leidenschaft, / und dass der Himmel alles Böse straft» glauben würde, die eigenen Illusionen aber als solche durchschaut – was sie nicht daran hindert, sich ihnen in ausgewählten Stunden hinter verschlossener Tür hinzugeben. Lächerlich? Mitnichten, das sind schon die «talentlosen» Männer in diesen Texten, die zu egoistisch, zu grob oder zu gleichgültig daherkommen. «Es gibt keine Liebhaber. Die Männer sind gleich so schrecklich verheiratet.» Die wenigen Ausnahmen von der leidigen Regel bleiben Eintagsfliegen: «Ich hab‘ dich lieb, und ich will dir gehören, / Jedoch so grosse Worte würden jetzt bloss stören, / Und morgen neun Uhr dreissig geht mein Zug.»

Trotz der emotionalen Kälte und der finanziellen Misere, die sie umgibt, spricht hier keine toughe, abgehärtete Frau, sondern ein Ich, das sich seine Sensibilität nicht nehmen lässt. Genau darin liegt der Reiz dieser Gedichte und Geschichten, die den Beziehungsalltag mit seinen Lieblosigkeiten und Rollenzwängen genauso wie den täglichen Überlebenskampf in der Zwischenkriegszeit mit scharfem Blick und noch schärferem Humor beschreiben, hinter dem bitterer Ernst steht. «Manchmal packt uns eine Sehnsucht / Nach der grossen Leidenschaft, / Doch das kommt ja nicht in Frage, / Denn wir sind: Eine perfekte Kraft», heisst es im «Lied der Stenotypistin».

Wegen ihrer Lungenkrankheit nach Wien zurückgekehrt, veröffentlichte Lili Grün die zwei Romane «Herz über Kopf» und «Loni in der Kleinstadt», die ihr zumindest bei der Kritik endlich den verdienten Erfolg brachten. Wenig später erfolgte der «Anschluss» Österreichs. Lili Grün wurde 1942 nach Maly Trostinec deportiert und dort ermordet. Der Aviva-Verlag gibt das Werk der zu Unrecht vergessenen Autorin seit einigen Jahren aufs Neue heraus – eine späte, aber wichtige symbolische Wiedergutmachung.

Lili Grün: Mädchenhimmel! Gedichte und Geschichten. Gesammelt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Anke Heimbert. Aviva-Verlag, Berlin 2014. 192 S., € 18.–.

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