Hundert Jahre und ein paar Tage liegt der Waffenstillstand von Compiègne zurück – für die „Presse“ habe ich die Lichtung von Rethondes und einige weitere nordfranzösische Erinnerungsorte bereist:
11. November 1918: Der Krieg endet – die Erde vergisst nicht
In einem Eisenbahnwaggon bei Compiègne wird der Waffenstillstand unterzeichnet. Heute erinnert eine Gedenkstätte daran, was davor geschah – aus europäischer Perspektive. Ein Lokalaugenschein.
Von Georg Renöckl
10.11.2018 um 10:53
„Ein Volk von 70 Millionen leidet, aber es stirbt nicht.“ – „Très bien.“ Mit diesen Worten, gesprochen in einem Eisenbahnwaggon auf einer einsamen Waldlichtung, endete am 11. November 1918 der Krieg an der Westfront. Matthias Erzberger, Staatssekretär des Deutschen Reiches, das gerade den Kaiser davongejagt hatte, und Ferdinand Foch, der Oberkommandierende der alliierten Truppen, schraubten die Füllfedern zu und ließen ihre Unterschriften unter der Waffenstillstandsurkunde trocknen. Einem Mitglied der deutschen Delegation liefen Tränen über die Wangen, schreibt Daniel Schönpflug in seinem Buch „Kometenjahre“ über den historischen Moment, der sich in der Nähe des Dorfes Rethondes bei Compiègne zutrug. Ginge es nach dem Volksmund, wäre damit der „allerletzte der Kriege“ vorbei gewesen: In Frankreich nannte man ihn „La dernière des dernières“, abgekürzt „La der des ders“. Knapp 22 Jahre später mussten die Vertreter Frankreichs auf demselben Tisch eine demütigende Waffenstillstandsurkunde unterschreiben, unter Hitlers persönlicher Aufsicht. Die Nazis nahmen den Waggon mit nach Berlin. Er verbrannte bei der Befreiung
Deutschlands durch die Alliierten.
Bereits 1948 sah in Rethondes wieder alles aus wie zuvor: Auf Betreiben des Bürgermeisters von Compiègne waren die 1922 auf der Lichtung aufgestellten, ebenfalls nach Deutschland gebrachten Denkmäler nach Rethondes zurückgeholt, der Waggon von 1918 rekonstruiert und eine Gedenkstätte errichtet worden. Die gibt es noch heute; anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums des Waffenstillstandes wurde sie neu konzipiert. Zusätzlich zum originalgetreu eingerichteten Waggon und den alten Guckkästen mit den dreidimensionalen Bildern der Kriegsschauplätze gibt es nun eine Ausstellung, in der die Hintergründe und Auswirkungen der beiden
Waffenstillstände in drei Sprachen erklärt werden.
Soldatenfriedhöfe reihen sich aneinander
Fährt man das Gebiet der Schlachtfelder ab, wird nicht nur die Verbitterung verständlich, die den französischen Verfassern der Waffenstillstandsurkunde die Hand führte, sondern auch die Leistung bewusst, die hinter der gelungenen Versöhnung steht. Die Westfront verlief in unmittelbarer Nähe von Rethondes. Auf Schritt und Tritt stolpert man über Soldatenfriedhöfe, die Steinfassaden zahlreicher Gebäude sind übersät von Einschusslöchern. Etwa die von Rodin so geliebte Kathedrale von Noyon, keine 20 Kilometer nördlich der Waffenstillstandslichtung. In ihrem Vorgängerbau wurde Karl, der spätere Große, zum König der Franken gekrönt.
Schlimmer als Noyon hatte die nahezu völlig zerstörte Merowinger-Hauptstadt Soissons unter dem Krieg zu leiden. Sie liegt zu nahe am Chemin des Dames, einem Höhenzug, an dem der französische General Nivelle im Frühjahr 1917 die deutschen Linien durchbrechen wollte. Es war der falsche Ort zur falschen Zeit: Die Deutschen hatten sich gerade auf eine „Siegfriedlinie“ genannte Kette von gut zu verteidigenden Stellungen zurückgezogen und diese zu Festungen ausgebaut. So auch die Hügel des Chemin des Dames. 300.000 Menschen starben bei den Kämpfen um die Anhöhe. Der Weg dorthin führte durch verbrannte Erde: „Bis zur Siegfriedstellung war jedes Dorf ein Trümmerhaufen, jeder Baum gefällt, jede Straße unterminiert, jeder Brunnen verseucht, jeder Flusslauf abgedämmt, jeder Keller gesprengt oder durch versteckte Bomben gefährdet, jede Schiene abgeschraubt, jeder Telefondraht abgerollt, alles Brennbare verbrannt; kurz, wir verwandelten das Land, das den vordringenden Gegner erwartete, in eine Wüstenei“, schreibt Ernst Jünger in seinen „Stahlgewittern“. Ein Symbol für die Zerstörungswut, die in Frankreich als weiterer Beweis für die „deutsche Barbarei“ gewertet wurde, ist bis heute die Burg von Coucy. Baron Enguerrand III. ließ sie im 13. Jahrhundert zur mächtigsten Festungsanlage Europas ausbauen. Mit einem Durchmesser von 31 und einer Höhe von 54 Metern übertraf sein Bergfried den des Louvre bei Weitem. Die imposante Ruine der von Sonnenkönig Ludwig XIV. unbrauchbar gemachten Burg wurde im Lauf der Zeit ein beliebtes Ausflugsziel, das auch der deutsche Kaiser Wilhelm II. 1915 besuchte.
Die deutsche Armee vernichtete bei ihrem „Alberichplan“ genannten Rückzug unschätzbare Kulturgüter und vertrieb über 100.000 Bewohner der betroffenen Region. Das Département Aisne erreichte erst in den 1970er Jahren wieder die Einwohnerzahl des Jahres 1914. Statt lebendiger Dörfer wuchsen im Département die Totenstädte. Als müssten sie bis in alle Ewigkeit ihre Uniform tragen, liegen Hunderttausende in Reih und Glied in den nationalen französischen Nekropolen. „Mort pour la France“ steht auf jedem Grab, „Für Frankreich gestorben“. Die Angehörigen der Toten wollten wenigstens die Knochen ihrer Söhne und Väter vom Vaterland zurückhaben, doch erst als illegale Exhumierungen überhandnahmen, erlaubte die Republik die Überführung der sterblichen Überreste in private Gräber. Die Gebeine von 230.000 toten Soldaten wurden ab 1920 von ihren Familien abgeholt.
Landschaften, gezeichnet vom Großen Krieg
Nicht nur Städte und Dörfer, auch die Landschaften Nordfrankreichs sind vom Großen Krieg gezeichnet. 60 Kilometer nördlich von Rethondes, in der Nähe des Dorfes La Boisselle, öffnet sich ein riesiger Trichter inmitten der Felder. Eine Explosion von nie dagewesener Stärke gab dort am 1. Juli 1916 das Startsignal für die Somme-Offensive der Alliierten. Walisische Pioniere hatten in monatelanger geräuschloser Arbeit einen Tunnel bis unter die vordersten deutschen Stellungen getrieben. 28 Tonnen Sprengstoff schleuderten das Erdreich 1300 Meter hoch in den Himmel.
Mehr als die zahllosen steinernen Monumente, an denen man hier unweigerlich vorbeikommt, sind es diese vom Krieg geformten Landstriche, die dem Besucher eine leise Ahnung von den Ereignissen vor 100 Jahren vermitteln. Etwa beim südafrikanischen Memorial des Delville-Waldes beim Ort Longueval, von den Soldaten in „Devil-Wood“ umgetauft. 3200 Südafrikaner mussten dort im Juli 1916 fünf Tage unter schwerem Artilleriefeuer ausharren. Danach waren über 1000 von ihnen tot, 1700 verwundet. An der pathetischen
Gedenkstätte mit ihrem makellosen Rasen, der schnurgerade angepflanzten Allee und dem von einem Bronzewagen gekrönten Tempel geht man am besten vorbei. Gleich dahinter steht ein verwitterter alter Baum, umgeben von einem Zaun, behängt mit Gedenkmedaillen: Es soll sich um den einzigen Baum handeln, der noch aufrecht stand, als die Überlebenden den „Wald“ räumen durften.
Wieder ein Stück weiter nördlich, im Dorf Neuville-Saint-Vaast bei Arras, befindet sich Frankreichs größter deutscher Soldatenfriedhof. 44.833 Menschen liegen dort. „Den hier fürs Vaterland gefallenen Kameraden“ ist auf einem Gedenkstein zu lesen. Selten klingt die Phrase hohler. Angemessener wäre ein Zitat aus dem Roman „Friedensgericht“ des österreichisch-ungarischen Autors Andreas Latzko: „Es sind Menschen schon gestorben für ihren Glauben, für ihre Freiheit, oder aus gemeiner Beutegier. Aber ohne Anteil am Gewinn, gegen den eigenen Glauben, gegen die eigene Freiheit, so wie wir? Noch nie!“
Auch 100 Jahre nach dem Weltkrieg werden noch neue Denkmäler eingeweiht. Etwa am Rand der nahen Nekropole von Notre-Dame-de-Lorette, einer 165 Meter hohen Kuppe, für deren Besitz 188.000 Soldaten starben. Ein Betonring von über 300 Metern Umfang liegt seit vier Jahren neben dem Soldatenfriedhof und ragt teilweise über den Abhang hinaus. Metalltafeln mit den alphabetisch geordneten Namen von 580.000 auf den Schlachtfeldern Nordfrankreichs Getöteten sind an der Innenseite des Ringes angebracht, den man, die Namen lesend, umrunden kann. Es ist das schönste und würdevollste aller Weltkriegsdenkmäler: Kein tieferer Sinn
oder höherer Zweck ihres Sterbens wird den Toten im Nachhinein aufgezwungen, kein Vaterland beschworen, kein Dienstgrad, keine Religion und keine Nationalität verstellen die Sicht auf den Menschen. Name für Name ist in die Tafeln graviert, ohne Unterscheidung. Gleiche Namen werden so oft wiederholt, wie Menschen dieses Namens in den Kämpfen umgekommen sind. So geht man vorbei an den Metalltafeln voller Smiths und Schmidts, Taylors und Schneiders, Bruckners und Duponts.
Nicht auslassen sollte man auf dem Weg dorthin noch ein unscheinbares kleines Mahnmal: Es sieht aus wie ein simples Münzfernrohr, ist aber eine fix installierte Virtual-Reality-Brille namens Timescope, die zur Zeitreise einlädt: Neuville-Saint-Vaast war einer der Orte, an denen es zu spontanen Verbrüderungen zwischen den Kriegsgegnern kam. „Franzosen und Deutsche sahen einander an, sahen, dass sie genau die gleichen Menschen waren. Sie lächelten einander zu, man wechselte ein paar Worte. Hände wurden ausgestreckt und gedrückt, man teilte Tabak, Saft und Wein“, erinnert sich der französische Korporal Louis Barthas in seinen in Frankreich viel gelesenen Kriegstagebüchern. Er äußerte den Wunsch, dass man eines Tages nicht nur an die Schlachten und an die Toten erinnern möge, sondern auch an die Verbrüderung, die von gezieltem französischem Artilleriefeuer beendet wurde. Nach 100 Jahren war man endlich so weit.