„Ein besonderer Junge“ heisst der neue Roman von Philippe Grimbert (die Verfilmung seines letzten, „un secret“/“ein Geheimnis“, war vor nicht allzu langer Zeit bei uns im Kino). Ganz anders, aber um nichts weniger lesenswert!
Hier der Link zur NZZ-Kritik: Der rostige Schlüssel zur Freiheit
Bonne lecture!
Der rostige Schlüssel zur Freiheit
Georg Renöckl ⋅ Man kann nicht zweimal im selben Fluss baden, und man kann nicht zweimal dasselbe Buch lesen. Im Fall des Flusses macht das ständig neu nachströmende Wasser die Wiederholung unmöglich, beim Buch sind es die Leser, die sich zwischen erster und zweiter Lektüre – hoffentlich – verändert haben. Im Idealfall ist es bereits der Text selbst, der uns zu anderen Menschen macht oder uns zumindest die Welt aus einem neuen Blickwinkel sehen lässt.
Der französische Autor und Psychoanalytiker Philippe Grimbert schreibt solche Texte. «Ein Geheimnis», sein autobiografischer Roman aus dem Jahr 2004, machte ihn auch dem deutschsprachigen Publikum bekannt. Ein Heranwachsender, dessen ganze Gedankenwelt von einem imaginierten grösseren Bruder dominiert wird, entdeckt darin, dass es diesen Bruder tatsächlich gegeben hat. Er wurde gemeinsam mit der ersten Frau seines Vaters von den Nazis ermordet. Der nach dem Krieg geborene zweite Sohn sollte nicht mit dem Wissen um die Tragödie belastet werden. Paradoxerweise kann er sich von seinen Komplexen aber erst befreien, als er das gesamte Zusammenspiel von menschlicher Schwäche, schuldhaftem Verhalten und mörderischem Umfeld durchblickt, das zu ihr geführt hat.
Ganz anders und doch wieder nicht ist die Geschichte, die Grimberts neuem Roman «Ein besonderer Junge» zugrunde liegt. Sie beginnt mit einer Kleinanzeige, die Louis ins Auge sticht, einem ziellosen, entscheidungsschwachen Studenten Anfang der siebziger Jahre. Ein Betreuer für einen «besonderen» Knaben in einem verschlafenen Dorf an der normannischen Küste wird gesucht. Louis fühlt sich von dem Inserat angesprochen, ist er doch selbst auch immer als «besonderer», weil introvertierter Knabe bezeichnet worden. Zudem hat er die Sommer seiner Kindheit im selben Dorf verbracht, einem leicht heruntergekommenen Belle-Epoque-Badeort. Wenig später ist Louis Teil einer höchst seltsamen Dreiecksbeziehung, die Philipp Grimbert als eindrückliches, spannendes Kammerspiel inszeniert.
Da ist zunächst die Mutter des «besonderen», wohl autistischen 16-jährigen Iannis. Sie ist Autorin erotischer Romane und macht keinen Hehl daraus, dass sie Louis zum (Studien-)Objekt ihrer Begierde auserkoren hat. Es kommt zu grotesken Eroberungsversuchen, denen sich Louis anfangs hartnäckig zu widersetzen versucht. Iannis selbst fasst schnell Vertrauen zu seinem neuen Betreuer. Er kann nicht sprechen, reagiert aber extrem sensibel auf die Gefühlsregungen seiner Bezugspersonen, so dass Louis oft den Eindruck hat, Iannis könne in seinem Innersten lesen. Louis fühlt sich zu seinem eigentümlich schönen, kindlich gebliebenen Schützling von Anfang an stark hingezogen. Er geht voll in seiner neuen Aufgabe auf, obwohl im früh klar wird, dass ihn diese unweigerlich ins Zentrum eines Traumas führt, das er längst verdrängt hat. «Von nun an muss ich mit der Erinnerung leben», lautet dann auch ein Satz gegen Ende des Romans, als Louis nichts anderes übrig bleibt, als sich seiner Vergangenheit zu stellen. Was wie eine Verurteilung klingt, bedeutet tatsächlich eine Befreiung für Louis und löst eine ungeahnte Kettenreaktion aus.
Nicht einmal zweihundert Seiten braucht der Erzähler für eine Geschichte, die den Leser tief in die dunklen Winkel der Seelen ihrer Protagonisten blicken lässt. Einmal mehr zeigt der Psychoanalytiker Philippe Grimbert dabei, wie gut verborgen die Schlüssel oft sind, mit denen sich so manche Blockade auf dem Weg zum selbstbestimmten Dasein erst öffnen lässt. Scheinbar nebenher erweist er im Roman noch Arthur Rimbaud seine Reverenz, fängt den besonderen Reiz der normannischen Küstenlandschaft ein und lässt seiner Leserschaft genug Freiraum für eigene Interpretationen des Erzählten und des nur Angedeuteten. Philippe Grimbert hat mit «Ein besonderer Junge» einen Roman geschrieben, den man jedes Mal wieder aufs gänzlich Neue lesen kann.
Philippe Grimbert: Ein besonderer Junge. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. DTV, München 2012. 180 S., Fr. 21.90.