Noch bis 24. März auf oe1.orf.at nachzuhören: Meine Besprechung von Franziska Grillmeiers Buch „Die Insel“
Moria war die Schande Europas. Bis zu zwanzigtausend Menschen mussten in dem viel zu kleinen Lager unter völlig unzureichenden hygienischen Bedingungen ausharren. Die Behörden waren von der großen Zahl an Asylanträgen überfordert. Die leichten Zelte boten unzureichend Schutz gegen Wind und Regen. Es fehlte an allem, an Hygieneartikeln, Nahrungsmitteln und an psychologischer Hilfe für die vielen Traumatisierten. Immer wieder brach Feuer aus, bis ein Großbrand das Lager im September 2020 zerstörte. So erschütternd, so bekannt waren diese Gegebenheiten auch, als die freie Journalistin Franziska Grillmeier im Sommer 2018 eine Wohnung auf Lesbos mietete, um über Moria zu berichten. Was sie dort seither erlebte, schildert sie in ihrem Buch „Die Insel. Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas.“ Georg Renöckl hat es gelesen.
Auf besondere Begeisterung stieß Franziska Grillmeier mit ihrem Vorhaben bei den Redaktionen, mit denen sie zusammenarbeitete, nicht. Die Situation in Moria schien vielen festgefahren und „auserzählt“. Doch die freie Journalistin sah in den Vorgängen auf der Insel mehr als das Leid der Menschen, die dort unter unerträglichen Bedingungen ausharren mussten. Sie erkannte frühzeitig, dass sich auf Moria darüberhinaus der systematische Abbau des Rechts auf Asyl beobachten ließ. Die Lager dienten nicht nur der Aufnahme von Flüchtlingen, sondern auch der Abschreckung derjenigen, die noch auf ihre Überfahrt warten. Nicht nur der ehemalige österreichische Außenminister, sondern auch andere europäische Politiker setzten explizit auf die Wirkung hässlicher Bilder, wie sie etwa schon ein stärkerer Regen erzeugte:
Während wir den Berg hinaufliefen, wurde aus dem kleinen Abwasserkanal in wenigen Minuten ein kleiner Bach, in dem Plastikflaschen, Schuhe und Baumzweige nach unten trieben. Dann liefen die Gullideckel über. Kleine Fontänen sprudelten über den Bordstein in die Zelte hinein. Reißverschlüsse öffneten sich. In diesem Moment kam keine Feuerwehr, niemand von den Behörden, der ansprechbar gewesen wäre. Niemand, der den Menschen gesagt hatte, wo sie die Nacht verbringen sollten. […]
Neben uns rutschten immer mehr Zelte, Planen und Holzpaneelen den Abhang hinab. Wir blieben stehen. Da sah ich einen Mann langsam den Berg hinunterlaufen. Auf dem rechten Arm trug er einen Jungen. Vielleicht seinen Sohn. In der rechten Hand hielt er einen Wasserkocher. Dann hielt er kurz an und fragte: ≪Hilft denn niemand?≫
Die fehlende Hilfe, so ist Franziska Grillmeier überzeugt, ist zynisches Kalkül. Während sich in Moria 167 Menschen eine Toilette teilen müssen, 8-jährige Kinder Suizidversuche unternehmen und verzweifelte Erwachsene sich selbst verbrennen, investiert die EU Milliarden in modernste, von Rüstungskonzernen entwickelte Grenzschutzanlagen. Die hässlichen Bilder aus den Lagern sind umso wirkungsvoller, je mehr wütende Einheimische darin vorkommen. Auch dafür sorgen politische Entscheidungsträger tatkräftig – durch Nichtstun. Die sprichwörtliche Feuerwehr fehlt seit Jahren nicht nur bei der Bewältigung von Katastrophen innerhalb der Lager, sie fehlt auch bei der Unterstützung der von den ankommenden Booten überforderten Einheimischen:
Gleichzeitig wurde aus der überschwänglichen Hilfsbereitschaft, für die ein Teil der Insel Lesvos 2016 für den Friedensnobelpreis nominiert worden war, ein Hilferuf nach Unterstützung, der in den Büros in Brüssel und Athen verhallte. Die Anwältin Elli Kriona Saranti, die seit einigen Jahren auf der Insel Geflüchtete vertrat, drückte die steigende Frustration der einheimischen Bevölkerung einmal so aus: ≪Wenn es brannte, kam einfach nie die Feuerwehr.≫ Und irgendwann hatten die Leute angefangen, die Kekse, die sie einst den Menschen an den Strand gebracht hatten, an die Grenzschützer:innen zu verteilen, die die Geflüchteten fortan von den Grenzen fernhalten sollten. Anstatt bessere Lebensbedingungen für die Menschen in den Lagern zu schaffen, die Asylverfahren zu beschleunigen und die Inselbevölkerung zu entlasten, kurzum: statt in die Würde der Menschen auf den Inseln zu investieren, verschob sich der Fokus der europäischen Staatengemeinschaft in dieser Zeit vor allem auf die Sicherung der Grenzen […].
Grillmeier bereist außer den griechischen Inseln auch die EU-Außengrenzen zwischen Bosnien und Kroatien, Polen und Belarus sowie Griechenland und Nordmazedonien. Überall bietet sich ihr das gleiche Bild: Vermummte Schläger machen Jagd auf Flüchtlinge, schlagen sie zusammen, rauben sie aus und schicken sie so gut wie nackt, oft auch schwer verletzt wieder zurück. Auch in Griechenland kommt es im Lauf der Jahre immer häufiger zu Pushbacks, bei denen selbst Menschen, die es an Land geschafft haben, gejagt, gefangen und auf Rettungsflößen in türkische Gewässer geschleppt werden. Dort werden sie sich selbst überlassen. Es handle sich bei den von europäischen Regierungen in Auftrag gegebenen Verbrechen an Europas Grenzen um „keine bloße Aushebelung von Recht mehr“, urteilt Grillmeier. Vielmehr habe längst eine „Verrechtlichung des Unrechts“ stattgefunden. Eine junge Mutter aus Kamerun berichtet:
Wieder brachten sie uns auf die Mitte des Meeres und durchsuchten uns. Sie haben uns nur 500 Euro abgenommen. Ich musste meinen BH durchschneiden. Sie tasteten meine Vagina und meinen Anus ab, um zu sehen, ob dort Geld versteckt war. Dann zwangen sie mich auch, mein Baby auszuziehen. Es war sechs Monate alt. Ich sagte: «Bitte schlagen Sie mich nicht.» Aber es war ihnen egal.[…] Einer der Männer warf das Kind in das andere Boot, so als würde er Müll wegwerfen. […] Ich bin doch von zu Hause weggelaufen, aus Kamerun, mit einem Kind in meinem Bauch, weil das Kind dort in Gefahr war. Wenn ich hierherkomme, tue ich das, weil ich Sicherheit für mein Kind will, aber auch hier will man mein Kind töten.
Franziska Grillmeier protokolliert vier Jahre, in denen in Europa eine tiefgreifende Veränderung stattgefunden hat. Europäische Werte wie Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte wurden an den Grenzen des Kontinents stillschweigend und doch vor aller Augen außer Kraft gesetzt. Freilich nicht von heute auf morgen, und auch das zeigt Grillmeiers Buch so deutlich: Es braucht viele kleine Schritte vom deutschen „Wir schaffen das!“ bis zum deutschen Überwachungszeppelin, der über technisch hochgerüsteten Grenzanlagen schwebt.
„Die Zeit hier hat mein Herz gebrochen, aber meinen Blick auf die Welt geschärft“, blickt eine Frau aus Somalia auf die Zeit auf Lesbos zurück. Beim Lesen von Franziska Grillmeiers Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas geht es einem ganz ähnlich.