Der letzte Sommer des Jazz

Für die Wiener Zeitung besprochen: Emily Waltons Chronik des Sommers 1926 an der Côte d’azur.

Literatur

Der letzte Sommer des Jazz

Von Georg Renöckl
Die austro-britische Autorin Emily Walton ist den Spuren von F. Scott Fitzgerald an der Côte d’Azur gefolgt – und hat darüber einen leichtfüßigen Roman geschrieben.

Kein Mensch würde hier freiwillig baden. Wo es flach ins Meer geht, treiben die Soldaten einer nahen Kavalleriekaserne ihre Tiere zur Abkühlung ins Wasser. Der Rest der Küste besteht aus Steinen und spitzen Felsen, bis auf eine kleine sandige Bucht am Rand einer ausgedörrten Halbinsel. Genau dort macht sich ein US-amerikanisches Ehepaar daran, eine meterdicke Schicht von verdorrtem Seegras auf die Seite zu räumen, ohne vom Kopfschütteln der Einheimischen Notiz zu nehmen. Sommer, Sonne und Sand genießen – die unerhörte Idee löst auf halbem Weg zwischen Nizza und Cannes Befremden aus.

Wir schreiben das Jahr 1922. Kein Europäer von Welt würde freiwillig den Sommer an der Côte d’Azur verbringen, die noch niemand so nennt. Nicht an den angenehm kühlen Ärmelkanal zu fahren, nach Deauville oder Trouville-sur-mer, wäre gesellschaftlicher Selbstmord. Den Murphys, die in aller Ruhe ihren Sandstrand säubern, ist das egal.

Bunter Freundeskreis

Bald nach dem ersten einsamen Sommer an der französischen Riviera kauft das künstlerisch veranlagte Paar ein weitläufiges Grundstück samt alter Villa auf der Halbinsel Cap d’Antibes, gleich oberhalb des Strandes, der „La Garoupe“ heißt. Sie bauen Gemüse an und halten Milchkühe, um ihre Kinder gesund ernähren zu können. Und sie laden ihren schillernden Freundeskreis zu rauschenden Festen ein: Pablo Picasso, Fernand Léger, Igor Strawinsky, Cole Porter, John Dos Passos, Zelda und F. Scott Fitzgerald.

Letzterer beschließt, den Sommer 1926 in der Nähe der Murphys zu verbringen. Im unbedeutenden Kaff Juan-les-Pins ist er ausreichend weit weg von Paris und New York, vom Glamour und den Skandalen, für die er und seine Frau Zelda bekannt sind. Hier kann er sich auf den Roman konzentrieren, der ihn endgültig zum bedeutendsten Gegenwartsautor Amerikas machen soll.

Emily Walton lächelt versonnen, als sie neunzig Jahre später auf dem Weg von La Garoupe hinaus zu den Felsen des Cap d‘Antibes von Fitzgeralds kühnen Plänen erzählt. Kaum jemand weiß besser als sie, was 1926 wirklich geschah. „Der Sommer, in dem F. Scott Fitzgerald beinahe einen Kellner zersägte“ heißt das Buch, in dem sie von der letzten halbwegs ruhigen Sommersaison an der Côte d’Azur erzählt, die im Jahr darauf von Coco Chanel „entdeckt“ werden sollte.

Die junge austro-britische Autorin, aufgewachsen in Gmunden und Salzburg, ist eine profunde Fitzgerald-Kennerin. Sie hat jede verfügbare Zeile aus der Feder des Autors gelesen, in Pariser und New Yorker Antiquariaten nach vergriffenen Ausgaben seiner Korrespondenzen gesucht und ist an die Schauplätze seines Lebens gereist.

Das Haus der Murphys, in dem sich Fitzgerald bei so vielen Festen sinnlos betrank und danebenbenahm, fand sie nicht mehr vor. Blickdichte Zäune schützen die teuren Villen, die heute auf dem mehrfach geteilten Grundstück stehen. Auch der Strand, den Fitzgeralds geduldige Freunde der Natur abgetrotzt haben, ist kaum wiederzuerkennen: Bars und Terrassen säumen den schmalen Streifen Sand, auf dem im Sommer kaum ein freies Fleckchen zu ergattern ist, um ein Handtuch auszubreiten.

Geblieben ist die Villa, die F. Scott, Zelda und Töchterchen Scottie 1926 bewohnten. Sie ist heute – mehrfach um- und ausgebaut – ein elegantes Hotel mit Piano-Bar. Hier, im ehemaligen Fitzgeraldschen Wohnzimmer, liest Emily Walton erstmals öffentlich Passagen aus ihrer Erzählung dieses Sommers vor, an dessen Ende der Autor ohne Manuskript wieder abreisen wird, einen verstörten Freundeskreis hinter sich lassend.

Den von ihm entdeckten Ernest Hemingway quält er mit heftiger Kritik an seinem Manuskript, das wenig später unter dem Titel „Fiesta“ veröffentlicht und zu einem Welterfolg werden wird. Den Murphys liefert er furchtbare Szenen, ob er nun ihr kostbarstes Geschirr aus dem Fenster wirft, ihre Gäste beschimpft oder in einen Teppich gewickelt, krakeelend auf dem Boden herumkriechend, eine elegante Party ruiniert.

Seiner zunehmend nervlich zerrütteten Frau Zelda ist er keine Stütze, anstatt sie im Krankenhaus zu besuchen, betrinkt er sich lieber mit Freunden.

Ein furchtbar schwieriger Zeitgenosse also, und doch ist Emily Waltons Faszination für den 1940 verstorbenen Autor des „Großen Gatsby“ ungebrochen. Ihm und seinem Umfeld kommt sie in ihrer dichten und doch leichtfüßig geschriebenen Chronik jenes scheinbar ereignislosen, aber umso folgenreicheren Sommers denkbar nahe. Mit Vor- und Rückblenden arbeitend, führt Walton ihren Lesern die vielen kleinen Dramen vor Augen, die in diesen Monaten aufeinander folgen und in sich bereits den Keim späterer Zerwürfnisse und Tragödien tragen. Im Rückblick wird klar, dass 1926 der unwiederbringlich letzte unbeschwerte Sommer für diesen Freundeskreis gewesen ist.

Erst 1934 erschien der Roman, den Fitzgerald damals an der French Rivierabegonnen hat: „Zärtlich ist die Nacht“. Das Buch kam zu spät, das Jazz Agewar in der Weltwirtschaftskrise untergegangen, die Twenties hatten ausgeröhrt. Emily Walton setzt ihnen ein würdiges Denkmal.

 

 

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