Abschied von den Super Märkten
Fast ein Jahr nach Ulli Simas „Merkblatt“ sind viele Wiener Marktstandler vom Warten auf die neue Marktordnung zermürbt – wenn sie nicht überhaupt aufhören. Ein Stimmungsbild
Mit enttäuschten Gesichtern hatten sie gerechnet. Die Woge von Trauer, Wut und Verzweiflung, die über sie hereinbrach, traf Gerhard Zoubek und Elmar Fischer-Neuburger dann aber doch unerwartet. Zu Jahresbeginn verkündeten der Gründer des Adamah-Biohofs und sein Schwiegersohn den Stammkunden, die trotz der Aussicht auf noch mehr Rüben, Kohl und Kartoffeln ihrem Markt auch im Jänner die Treue hielten, dass sie aufhören werden. Da wurde es emotional. „Das könnt ihr nicht machen!“, schimpften manche Kunden lautstark. Eine alte Dame, die jeden Samstag am Adamah-Stand ihren Einkaufstrolley füllte, jammerte: „Aber weiter als bis hierher kann ich doch nicht mehr gehen!“ Eine Kundin holte ihre Gitarre und sang zur Melodie des STS-Klassikers vom Großvater: „Adamah, kannst du net dobleibm mit dei’m Super-Sortiment …“ Die meisten waren einfach traurig, wie die zwei Biobauern, denen beim Schildern des Abschieds auch heute noch die Stimme zittert. 20 Jahre lang betrieb der Biohof Adamah seine Stände auf Wiens Wochenmärkten, dazu kamen ein fester Stand auf dem Vorgartenmarkt und zwei im Alleingang bespielte Wochenmärkte im 9. Bezirk. Die traurige Bilanz: „Wir haben einfach zu viel Geld auf den Märkten gelassen.“ Die mit dem Wetter schwankende Kundenfrequenz, der hohe Wareneinsatz, die Konkurrenz der Supermärkte und zuletzt die Registrierkassenpflicht – es ist sich einfach nicht mehr ausgegangen. Wer die beiden samstäglichen Biomärkte auf dem Sobieski- oder dem Servitenplatz einmal besucht hat, wird die Emotion verstehen: Mit den Märkten ist der Gegend auch ein riesiges Stück Lebensqualität verlorengegangen.
Nüchterner sieht man die Angelegenheit beim Wiener Marktamt: „Dafür können wir nichts“, lautet der lapidare Kommentar von Marktamts-Sprecher Alexander Hengl. So richtig zuständig fühlt er sich auch nicht: Die meisten der Wochen- oder Bauernmärkte, die mittlerweile zahlreiche Wiener Grätzel beleben, wurden von Bezirken, der Gebietsbetreuung oder von Vereinen ins Leben gerufen. In der Wiener Marktordnung, die auf 79 Seiten von der Standvergabe bis zur Abfallentsorgung penibel regelt, wie Märkte zu funktionieren haben, werden sie nicht erwähnt. Auch auf dem Online-Auftritt der Stadt Wien erfährt man nichts von den Wochen- und Bauernmärkten abseits der offiziellen Marktgebiete.
Während die einen also ignoriert werden, fühlen sich die anderen schikaniert: Zehn Monate ist es her, dass die für Märkte zuständige rote Stadträtin Ulli Sima ein Merkblatt an Wiens Marktstandler ausgeschickt hat. Darin teilte sie ihnen mit, dass die bisher gestatteten „Nebenrechte“ ab Juli 2017 bei Neuvergaben von Ständen gestrichen werden. Diese erlaubten es, an bis zu acht sogenannten Verabreichungsplätzen Speisen und Getränke anzubieten. Die Märkte der Stadt würden dadurch jedoch zu „Fressmeilen“ verkommen, so die Stadträtin, die offenbar Gefahr in Verzug sah: Obwohl die Marktordnung ohnehin gerade überarbeitet werden sollte, griff sie zur umstrittenen Sofortmaßnahme.
Der Schuss aus der Hüfte traf die Falschen: nämlich Menschen wie Dietmar Püringer, der die Eröffnung seiner Weinviertlerie am Schwendermarkt im Sommer 2017 von langer Hand geplant hatte. Sein Businessplan war hieb- und stichfest. Maximal hundert Kilometer sollten die Produkte der Weinviertler Kleinbauern, die er verkaufen wollte, gereist sein. Ein Konzept, das nicht nur ins immer angesagter werdende Reindorfgassen-Viertel passt, sondern dem kleinen Markt in Rudolfsheim-Fünfhaus auch endlich den bitter benötigten Obst- und Gemüsestand bringen sollte. 40 Prozent des Umsatzes würde er durch die Nebenrechte erzielen, hatte Püringer mit einem erfahrenen Unternehmensberater berechnet. Als er vom Merkblatt erfuhr, meldete er sich sofort beim Marktamt. Da er seinen Plan schon zuvor eingereicht hatte, durfte er die acht Verabreichungsplätze beibehalten. Ob er das Projekt sonst auch umgesetzt hätte? „Wahrscheinlich nicht.“
Püringer hatte Glück, andere waren später dran. Wie viele Unternehmensgründungen durch das Merkblatt verhindert wurden, ist schwer abzuschätzen. Ins Mark getroffen fühlen sich aber auch diejenigen, die in den letzten Jahren abgewetzte Marktstände auf angeblich hoffnungs- und zukunftslos vor sich hin dämmernden Märkten weitab vom Naschmarkt übernommen und renoviert haben. „Dass man auch auf einen Espresso bleiben und ein bisschen plaudern kann, das ist die Seele des Marktgeschäfts“, erklärt Anna Putz. Seit 2014 verkauft sie als „Anna am Meidlingermarkt“ ausgewählte Feinkost aus Österreich und Frankreich. „Für mich sind die Nebenrechte vom Umsatz her gar nicht zwingend nötig, aber sie bringen Leben in den Stand. Auf einem Markt suchen die Kunden ja den persönlichen Kontakt.“ Irgendwann im Gespräch mit Anna fällt ein Satz, den so gut wie jeder Marktstandler einmal sagt: „Ich mache das hier ja nicht, um reich zu werden.“
Gerade die in den letzten Jahren langsam wieder aufblühenden kleinen Märkte profitieren vom Idealismus derjenigen, die neben Produkten abseits des Mainstreams auch frischen Wind in die Grätzel bringen. Simas Merkblatt macht sie ärmer: Der Wert ihrer oft mit hohem Aufwand renovierten Marktstände hat sich dramatisch verringert. Jemanden zu finden, der Ablöse für einen Stand zahlt, in dem er nicht nur selbst kein Geschäft mit Speisen und Getränken machen darf, sondern die vorhandene Infrastruktur auch noch rückbauen muss, ist kaum möglich. Haben Unternehmer, die jetzt auf ihren Investitionen sitzen bleiben, also einfach Pech gehabt? „Derzeit ja“, bestätigt Alexander Hengl, kein Mann der vielen, dafür der prägnanten Worte.
Wo gerade noch positive Energie zu greifen war, herrschen seit dem letzten Sommer Unsicherheit und Ärger. Der Volkertmarkt, vor kurzem noch im Aufwind, siecht nun einem sich immer deutlicher abzeichnenden Ende entgegen. Auf dem frisch sanierten Vorgartenmarkt sperren einige der neu eröffneten Stände schon wieder zu, und selbst auf dem Meidlinger Markt, dem Paradebeispiel für das Wiener Märkte-Wunder der letzten Jahre, ist die Laune im Keller. „Wir hören alle auf“, lautet die düstere Zukunftsprognose von Alexander Fitz, der aus einem alten Marktstand das Craft-Beer-Kompetenzzentrum Malefitz gemacht hat. Er will sich juristisch gegen das Verbot der Nebenrechte wehren. Dass eine neue Marktordnung wie angekündigt bald kommen wird, glaubt er nicht, denn: „Es gibt keine Vision.“
Wie eine solche aussehen könnte, führt nur etwa einen Kilometer weiter nördlich ausgerechnet der seit gefühltem Menschengedenken ums Überleben kämpfende Schwendermarkt vor. Die Geschwister Nina und Benedikt Strasser haben dort im Herbst 2016 in einem leerstehenden Marktlokal das „Landkind“ gegründet, eine Mischung aus Marktcafé und Biogreißler. Auch Ninas Lebensgefährte Stefan Rom arbeitet mittlerweile für das Landkind, gemeinsam verfolgen die drei Jungunternehmer ehrgeizige Pläne: „Wir wollen das Bild des Marktes in den Köpfen verändern.“ So fluteten bei ihrem „Balkongartenmarkt“ im April hunderte Kunden den kleinen Markt am Rand der äußeren Mariahilferstraße.
Die Bauern und Gärtnereien, die Jungpflanzen und Saatgut zum Verkauf anboten, hatten nicht an den Ansturm geglaubt und mussten mehrmals für Nachschub sorgen. Und es soll weitergehen: Demnächst wird es einen Bauernmarkt mit Sommerkino geben, „Herbstrauschen“ zur Sturmzeit, im Dezember einen „Adschwend“-Markt. „Wer zufällig eine Veranstaltung besucht und sieht, dass es da noch mehr gibt, kommt vielleicht wieder.“ Was es dafür braucht? Die Möglichkeit, auf ein Glas zu bleiben und zu plaudern natürlich. Gegen das Sima-Merkblatt ging das dynamische Trio mit einigen Mitstreitern daher auf die Barrikaden: Man veranstaltete ein „Fressmeilen-Frühstück“ auf dem Rathausplatz und lud Ulli Sima ein, sich im gemütlichen Rahmen die Sorgen der Standler erklären zu lassen. Sie kam nicht.
Auch das Marktamt gibt sich angesichts allzu forscher Vorschläge der Marktstandler eher zugeknöpft. „Würden wir so viel falsch machen, kämen nicht ständig Delegationen aus dem Ausland zu uns, die sich anschauen, warum die Wiener Märkte so gut funktionieren“, so Marktamtssprecher Hengl. Und: „Wenn die Straßenverkehrsordnung überarbeitet wird, macht man vorher auch keine Umfrage bei den Autofahrern.“
Dabei bekäme das Marktamt bei einer solchen Umfrage durchaus Erfreuliches zu hören: Viele wünschen sich nämlich nicht weniger, sondern mehr Marktamt. „Es braucht viel mehr Ansprechpartner für uns“, ist Anna Putz überzeugt. Die Marktreferenten sind derzeit für so viele Märkte zuständig, dass der kontinuierliche persönliche Kontakt nur schwer aufrechtzuerhalten ist. Dieser könnte dann auch gleich auf eine neue Basis gestellt werden: „Marktstandler und Marktservice sollten gemeinsam daran arbeiten, dass die Märkte florieren und wieder soziale Knotenpunkte der Stadt werden“, meint Stefan Rom. „Das sieht die derzeitige Marktordnung aber nicht vor. Man müsste das Marktamt neu denken.“ Noch stehe vor allem das Kontrollieren und Strafen im Vordergrund, ein Dialog auf Augenhöhe sei kaum möglich.
„Wenn einer von denen reinkommt, weiß ich, dass es Stress gibt“, lautet noch so ein Satz, der in vielen Gesprächen fällt. Eine Fliese an der Wand hat einen Sprung? Muss sofort repariert werden, und zwar unter Strafandrohung mitten im auf Hochtouren laufenden Weihnachtsgeschäft. Die Ware ist um Punkt sieben Uhr noch nicht mit Preisschildern versehen, weil der Verkäufer noch beim Aufbauen des Standes ist? Strafe. Der Mindestabstand zum Nachbarn ist um ganze zehn Zentimeter unterschritten? Der Stand muss sofort ab- und weiter weg neu aufgebaut werden, und das bei Hochbetrieb am Samstagvormittag. Sonst: Strafe. Eine Lesung war bis 21 Uhr genehmigt, und um zehn nach neun sind noch Menschen im Marktlokal? Strafe. Die drei Tische auf dem gemieteten Platz vor dem Marktstand stehen nicht in einer Linie? Die Gäste müssen aufstehen und die Tische schnurgerade ausrichten. Sonst: Strafe. Immerhin nicht für die Gäste.
„Wer neu auf dem Markt ist, wird erst einmal sekkiert“, erzählt auch der Weinviertler Biobauer Franz Binder, der auf drei Wiener Wochenmärkten sein Obst und Gemüse verkauft. „So vergrätzt man viele gute Standler.“ Auch bei ihm selbst habe es Monate gebraucht, bis ihn die Marktaufseher seine Arbeit in Ruhe machen ließen. Vor seinen Ständen mit den oft spektakulär aussehenden Gemüsesorten – „Schmecken müssen die Fisolen, ob sie lila sind oder nicht, ist mir egal“ – stehen die Kunden stets Schlange, doch von der Stadt Wien fühlt er sich weniger geschätzt. 2002 wurden unter der damals zuständigen Stadträtin Renate Brauner auf einigen Märkten Bio-Ecken eingerichtet. Heute, 16 Jahre und zwei Stadträtinnen später, ist das Bio-Eck am Naschmarkt noch genauso klein wie damals – trotz des anhaltenden Booms der Biobranche. „Die Beamten machen ihren Job“, meint Binder, aber mehr eben nicht. Er sieht die Politik gefordert, die sich für die Bauernmärkte und für mehr Bio auf Wiens Märkten einsetzen müsste.
Ob sie das auch will? Der aktuelle Werbespot für die Wiener Märkte zeigt eine andere Vision:
Man sieht ein älteres Paar, das blendend gelaunt bei Weißwein und Muscheln sitzt. Dazu spricht eine Stimme aus dem Off den etwas rätselhaften Satz: „Du willst essen wie in Rom, damit du mit all deinen Sinnen genießen kannst.“ Zum Text „Deine Weltoffenheit. Dein Leben. Wie in Wien.“ gehen die beiden Arm in Arm zwischen den Marktständen davon, ohne diese eines Blickes zu würdigen. Einkaufskorb haben sie keinen dabei.
Erstaunlich, dass eine Stadt, die ihre Märkte wieder mehr zu Nahversorgern machen will, sie ausgerechnet so inszeniert: nämlich als Fressmeile.