Meine Rezension für Ex Libris vom 25. 08. 2019:
„Sie würden arm sein und ihre Kinder noch ärmer. Sie würden vielleicht wie diese Elenden werden, die sie so verachtet hatten, Zigeuner, Faulenzer, Drogensüchtige, Schmarotzer, Kanaken, Ratten, Neger, die von unten, scheckig, keine echten Franzosen […]. Einst hatte eine Arbeiterklasse existiert. Sie würden es bezeugen können. Sollte irgendwann einmal jemand danach fragen.“
Mit diesen Sätzen endet ein bemerkenswerter Debütroman aus dem Jahr 2014. „Aux animaux la guerre“ heißt er, also so etwas wie „Den Tieren Krieg“, geschrieben wurde er von einem damals 36-jährigen Franzosen namens Nicolas Mathieu. Es handelt sich um einen lupenreinen roman noir voll Tempo, Wucht und Härte, der im tiefsten Winter in den hintersten Vogesen spielt, wo gerade die letzte Fabrik schließt und die Verzweiflung so groß ist, dass manche vor nichts mehr zurückschrecken. Auf den nächsten Roman des vielversprechenden Autors oder gar eine deutsche Übersetzung wartete man lange vergeblich. 2018 erschien dann „Leurs enfants après eux“, auf Deutsch: „Wie später ihre Kinder“. Der Roman wurde prompt mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, dem bedeutendsten französischen Literaturpreis. Nicolas Mathieu bleibt in diesem neuen Roman in gewisser Weise seinem alten Thema treu. Wieder geht es um ein lothringisches Nest mit unwiederbringlich vergangener Industriegeschichte, doch dieses Mal liegt das Ende der Arbeiterklasse schon zu Beginn des Romans in der Vergangenheit: 1992, als die Handlung einsetzt, wurde in Lothringen die letzte Erzmine stillgelegt. Doch niemand interessiert sich im Roman für die Geschichte der einst so stolzen Arbeiterschaft, schon gar nicht die Kinder der Deklassierten, die mit Mitte 40 schon am Ende sind. An die Blütezeit erinnern nur noch die Namen der Protagonisten, deren Vorfahren einst aus aller Herren Länder ins damals prosperierende Lothringen gelockt wurden. Die Hauptfigur in Nicolas Mathieus Roman heißt Anthony Casati, sein Intimfeind Hacine Bouali. Sie stehen im Zentrum einer Gruppe Jugendlicher, die der Roman durch die Jahre zwischen 1992 und 1998 begleitet. Den Ton gibt dabei zunächst ein Song „aus einer Drecksstadt am Ende der Welt“ an, „wo versiffte weiße Jungs in Karohemden billiges Bier soffen. […]. In jeder Stadt auf dieser deindustrialisierten, gleichförmigen Welt, in jedem abgehängten Kaff hörte die Jugend, die keine Träume mehr hatte, jetzt diese Band namens Nirvana. Sie ließen sich die Haare wachsen und versuchten, Melancholie in Wut zu verwandeln, Depression in Dezibel. Das Paradies war endgültig verloren, die Revolution würde nicht kommen. Ihnen blieb nur der Lärm.“
Der vierzehnjährige Anthony spürt im Sommer 1992, dass seine Kindheit zu Ende ist. Er ist unsicher, was jetzt kommen soll und in welche Richtung – im Uhrzeigersinn oder dagegen – man beim Küssen korrekterweise die Zunge zu drehen hat. Er weiß nur eines: „Er würde nicht so enden wie sein Alter, der den halben Tag besoffen war, bei den Fernsehnachrichten rumschimpfte oder sich mit seiner gleichgültigen Frau stritt. Wo war das Leben, verdammt?“
Anthony borgt sich heimlich das Moped des Vaters aus, um zu einer Party in einem Haus der anderen, der Reichen zu fahren, die französische Nachnamen tragen. Eingeladen wurde er nur, weil sein Cousin den Gastgebern Haschisch liefert. Als er um drei Uhr morgens aus dem Alkohol- und Drogenrausch erwacht, ist das Moped weg. Feindschaften fürs Leben entstehen, Familien zerbrechen, das Leben beginnt, das richtige. Es sind solche Momente, die Nicolas Mathieu in seinem Roman aneinanderreiht, Schicksalsstunden, an denen seine Figuren irreversible Entscheidungen treffen müssen: Der Nationalfeiertag, an dem sich die ganze Stadt am Seeufer versammelt und an dem es bei der traditionellen Schlägerei auch Tote geben kann, oder das WM-Finale von 1998, als sich so etwas wie Nationalstolz bis ins verlorenste, rostigste Eck Lothringens ausbreitet.
Wie in seinem vier Jahre zurückliegenden Debüt sind es auch in Mathieus neuem Roman präzise gearbeitete, genau den Punkt treffende Sätze, die für Dichte und Tempo sorgen und über 400 Seiten lang in keiner Zeile das Gefühl vermitteln, auch nur ein Wort zu viel stehe im Text. Nicht immer kann die deutsche Übersetzung mit der Wucht des Originals mithalten. „QI de cinq, tout en bite », heißt es über einen alten Freund von Stephs Vater, der sie schon als Baby kannte, aber nun, da ihr Körper heranreift, peinliche Bemerkungen macht. „Der IQ ging runter auf fünf, der Schwanz übernahm das Steuer“, steht in der deutschen Übersetzung – korrekt, doch dreimal so lang wie im Original. „IQ fünf, nur noch Schwanz“ wäre auch gegangen.
Nicht nur die lächerlich gewordenen alten Männer, auch alle anderen bekommen im Roman, in dem die Erzählperspektive ständig wechselt, ihr Fett ab. So wie Steph den einst väterlichen Freund problemlos durchschaut und mitleidlos analysiert, blickt auch Hacine Bouali mit sezierendem, kaltem Blick tief in die Seele seines Vaters, der aus Marokko gekommen war, damit es die Kinder einmal besser haben. Aus der Sicht des Sohnes ist sein Lebensentwurf erbärmlich gescheitert, nicht anders als derjenige der Eltern seines Feindes Anthony, die nicht einmal versuchen, vor ihrem Kind Haltung zu wahren. Ob es Anthonys Cousine besser erwischt hat, die mit neunzehn zum ersten Mal schwanger wurde und in der Mutterschaft ihre Berufung gefunden zu haben glaubt? Mit zweiundzwanzig Jahren und zwei Kindern ist sie eine „Naturgewalt aus Selbstaufgabe und Zärtlichkeit, ein unaufhörliches Geben, überquellend von Milch, Tränen, Liebe und Müdigkeit.“
Nicolas Mathieu führt in seinem großen, zurecht ausgezeichneten Roman das Kunststück eines zielgenauen Rundumschlags vor. Keine Lebenslüge, die nicht enttarnt wird, keine Illusion, die nicht platzt, kein Versprechen, das nicht gebrochen, kein guter Vorsatz, der nicht über Bord geworfen wird. Dabei fehlt es dem Erzähler nicht an Empathie, ja Zuneigung zu seinen Figuren. Man blickt zwar in ihr Innerstes, doch wirken sie dabei nie bloßgestellt. Teils strampeln sie sich ab, teils haben sie aufgegeben, eine echte Chance hat ihnen das Leben ohnehin nie eingeräumt. Eine Art Zufriedenheit – oder besser eine „sanfte Beklemmung“ – findet nur, wer wie Anthony am Ende des Romans frühzeitig akzeptieren kann, dass es kein Entrinnen gibt: „Sie hatten dieselben Freizeitaktivitäten, dasselbe Gehalt, dieselbe unsichere Zukunft, und vor allem dieselbe Scham, die es ihnen unmöglich machte, über ihre wahren Probleme zu sprechen, dasselbe Leben, das wie ohne ihr Zutun ablief, Tag für Tag, in diesem Nest, das sie alle hatten verlassen wollen, ein Dasein, das dem ihrer Väter ähnelte, ein schleichender Fluch.“