Blau seit 150 Jahren

Alt, aber gut: Der Donauwalzer, hier als NZZ-Glosse gewürdigt.

Blau seit 150 Jahren
GEORG RENÖCKL
Eine Horrorvision: Vor dem Abheben
und nach der Landung dröhnt aus dem
Lautsprecher von Alitalia-Maschinen
jedes Mal «O sole mio». Die Air France
empfängt und verabschiedet ihre Passagiere
nur noch mit Jacques Offenbachs
Höllen-Cancan. Iberia beschallt die
Kabine mit dem «Toreador» aus Carmen.
In der Austrian-Endlosschleife
läuft der Donauwalzer.
Nun ist in Österreich bekanntlich seit
je alles erlaubt, was anderswo aus Gründen
des guten Geschmacks verboten ist.
Womöglich gab es aber doch Beschwerden
– denkbar etwa nach Flügen mit verzögerter
Starterlaubnis. Jedenfalls liess
die österreichische Fluggesellschaft ihre
Kunden befragen, wie es ihnen mit der
walzerseligen Begrüssung so geht: 76
Prozent finden sie gut.

Eine strapazierfähigere Melodie wird
man vergeblich suchen; selbst ihre Verwendung
als Notdurft-Hintergrundmusik
in der bei Touristen beliebtenVienna
Opera Toilet kann ihrer unverwüstlichen
Aura nichts anhaben. Schliesslich
ist sie auch dafür geschaffen worden,
widrigen Bedingungen zu trotzen: Bei
ihrer Uraufführung im Februar 1867 lag
bleierne Trübsal überWien, das die verheerende
Niederlage gegen die Preussen
bei Königgrätz noch lange nicht verwinden
sollte. Aussenpolitisch gedemütigt
und im Inneren geschwächt, ging die
Monarchie von nun an spürbar ihrem
Zerfall entgegen.
In diese allgemeine Tristesse hinein
schrieb der k. k. Hofballmusikdirektor
Johann Strauss seinen Walzer «An der
schönen blauen Donau», der ursprünglich
gesungen wurde. «Wiener seid froh
– Oho, wieso? – No, so blickt nur um! – I
bitt, warum? – Ein Schimmer des
Lichts . . . – Wir seh’n noch nichts!»,
heisst es darin. Kein Wunder, dass der
Donauwalzer bald als heimliche Hymne
Österreichs oder zumindest Wiens galt,
wenn auch nicht in der satirischen Original-,
sondern in der mitreissenderen
Instrumentalversion.
«Wir Schriftsteller zeigen der Welt,
wie elend sie ist – Strauss zeigt uns, wie
schön sie sein kann», soll Emile Zola
über den Geniestreich desWalzerkönigs
gesagt haben, für den die zeitgenössische
Presse das Wort Schlager erfand.

Der Donauwalzer erklang, als im April
1945 die Unabhängigkeit Österreichs
ausgerufen und zehn Jahre später das
erste Fernsehprogramm des Österreichischen
Rundfunks ausgestrahlt wurde.
Heute noch scheint in Österreich ein
Jahreswechsel ohne pünktlich zu Mitternacht
getanztem kollektivem Donauwalzer
unvorstellbar.

Erklärungsversuche für die Robustheit
der Melodie, die auch in Stanley
Kubricks «2001: A Space Odyssey»
durch den Weltraum schallt, gibt es zuhauf.
Einen der originelleren trug jüngst
ein Wiener Psychoanalytiker vor, der
die an- und abschwellende Intensität des
Walzers recht direkt erotisch deutete.
Wie primitiv sichRavels «Bol´ ero» gegen
das raffiniert zu multipler Ekstase führende
Wiener Liebesspiel auf einmal
ausnimmt!
Aus den Klauen derjenigen, die die
Strausssche Melodie zu ihren schwerverdaulichen
Marketingsüppchen verkochen,
wird sie auch in den nächsten
150 Jahren nicht zu lösen sein. Daran
ändert auch die gern grosszügig übersehene
Tatsache nichts, dass der Schöpfer
des trostreichen Walzers zwanzig
Jahre nach der Uraufführung seine
Staatsbürgerschaft ablegte – und Deutscher
wurde

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