Für den „Falter“ besucht: Die Wachtelei bei Wilhelmsburg:
An ihren Eiern sollt ihr sie erkennen
In der Wachtelei im niederösterreichischen Wilhelmsburg züchtet Neo-Landwirt Manfred Seeböck nicht nur Wachteln, sondern auch andere, vom Aussterben bedrohte Nutztierrassen
Kein Ei gleicht dem anderen. Getupft oder gefleckt, scharf konturiert oder eher verwischt gemustert, heller oder dunkler grundiert – wer die Kunst fantasievoller und variantenreicher Camouflage studieren will, soll sich eine Schachtel Wachteleier kaufen. Dabei wiederholen sich die Muster durchaus, nur eben selten in derselben Schachtel: „Die Eier sind der Fingerabdruck einer Wachtelhenne“, erklärt Wachtelbauer Manfred Seeböck. „Jede hat ihr eigenes Muster, das immer gleich aussieht.“ Ganz schön eigenwillige Vögel, diese Wachteln.
So wie ihr Herrchen, was nicht immer von allen positiv gesehen wird: „Für die meisten war ich einfach ein Spinner“, erzählt Manfred Seeböck über die Zeit der Gründung seines nahe Wilhelmsburg im niederösterreichischen Alpenvorland gelegenen Betriebs „Wachtelei“. Sechs Jahre ist das nun her. Die Gegend ist von behäbigen Vierkanthöfen und entsprechenden Betriebsgrößen geprägt – der Plan, eine Existenz auf einer Handvoll dieser kleinsten aller Hühnervögel aufzubauen, klang für viele Menschen dort einfach lächerlich. Wie zum Trotz lautet Seeböcks Motto, das auf jedem seiner Produkte prangt: „Es kommt nicht auf die Größe an.“ Wie sehr das stimmt, merkt man sofort nach der Ankunft in der Wachtelei: Das beeindruckend wilde Geschrei, mit dem die Wachtelhähne unbekannte Besucher empfangen, würde man den höchstens 20 Zentimeter großen Tierchen niemals zutrauen. Seeböck hält das stimmgewaltige, aus einer Kreuzung von japanischen und französischen Vorfahren hervorgegangene Geflügel in geräumigen Ställen. Dort können die Wachteln im Sand scharren, den sie auch zur Verdauung brauchen, und die in den Ställen verteilten Brocken aus Waldviertler Muschelkalk nach Lust und Laune mit den Schnäbeln bearbeiten. Austernschalen würden zwar den gleichen Zweck erfüllen und wären billiger, passen aber nicht zur Philosophie Manfred Seeböcks, der gerade gemeinsam mit Bio Austria Richtlinien zur biologischen Wachtelhaltung ausarbeitet – die gibt es derzeit nämlich noch nicht. Bei dieser Arbeit ist er voll in seinem Element: Das Tüfteln, Basteln und Ausprobieren von Neuem kennzeichnet den Werdegang des Wachtelbauern, der früher einmal Modelle für Lilienporzellan herstellte und später in die Autoindustrie wechselte. Als er diesen Job durch die Wirtschaftskrise verlor, machte er sich auf dem Bauernhof eines kinderlos gebliebenen Verwandten selbstständig und investierte das Ersparte in den eigenen Betrieb. Wachteln, deren Eier nicht nur gut schmecken, sondern wegen der darin enthaltenen Aminosäuren auch besonders gesund sind, faszinierten ihn schon lang – sie sollten nun die Basis für eine neue berufliche Zukunft werden. Der Neo-Landwirt absolvierte einen Facharbeiterkurs nach dem anderen, um Fruchtsäfte und Schnäpse herstellen sowie Geflügel halten, verarbeiten und verkaufen zu dürfen.
Beim Rundgang durch seinen Betrieb wird klar, wie kreativ Manfred Seeböck auch in seinem neuen Beruf geblieben ist: „Ich habe viele Standbeine“, erklärt der Chef der Wachtelei. Der 1918 erbaute kleine Bauernhof präsentiert sich heute wie eine Art Themenpark für selten gewordene oder überhaupt vom Aussterben bedrohte Nutztierrassen. Die Ställe für Wachteln und Fleischhühner hat Seeböck selbst in den ehemaligen Kuhstall eingepasst, im leeren Verschlag daneben waren bis vor kurzem Perlhühner untergebracht, doch die hat er vor wenigen Tagen einem bekannten Wirt aus dem Tullnerfeld geliefert. Unter den Wachtelställen leben Vertreter verschiedener Kaninchenrassen, vom Grauen Riesen bis zum Dalmatiner, der das gleiche schwarz-weiße Fellmuster hat wie die dank des Disney-Films weltberühmten Hunde. In einem Tiefstreustall sind zwei rotfellige Pietrain- und zwei Turopolje-Schweine zu Hause, die Besuchern neugierig die Rüssel entgegenstrecken. Die Haltung im Freien hat Seeböck aufgegeben: „Die haben sich immer aus ihrem Gehege gegraben.“
Umso besser funktioniert die Freilandhaltung bei den 150 Hühnern, deren Eier einen unterschiedlich stark ausgeprägten Grünstich aufweisen: Zur Schar gehören auch einige Araucana-Hennen, die sattgrüne Eier mit geringem Cholesteringehalt legen, doch die Rassen, von französischen Marans bis zu amerikanischen Rhodeländern, haben sich längst kunterbunt gemischt. Auch Puten, Enten und Gänse leben hier in einer Bilderbuchidylle, in großzügig abgezäunten Ausläufen am Rand einer Streuobstwiese, die Seeböck heuer wegen der schwachen Mostbirnenausbeute kaum Arbeit macht. „Leider.“ Ein Maisfeld zählt noch zu den Ländereien der Wachtelei, doch die Ernte tauscht Seeböck gegen den Weizen des Nachbarn: Er will, dass seine Tiere langsam wachsen, durch den Mais würden sie zu schnell Fett ansetzen. Während eine Schar Puten wie zur Begrüßung über die Wiese gelaufen kommt, erzählt Manfred Seeböck von Truthähnen in Massentierhaltung, die auf maximale Fleischleistung gezüchtet werden und am Ende der Mast in Gestelle gesteckt werden müssen, da ihre Beine das Gewicht nicht tragen können – kein Vergleich zu den 20 Puten, die sich hier auf 800 Quadratmetern Wiese austoben können und noch nie mit Antibiotika in Berührung gekommen sind.
Das einzige medizinische Gerät auf dem Gelände der Wachtelei ist der Futtersilo für die Hühner: Der stammt ursprünglich aus einer Wiener Zahnklinik. Deren Besitzerin ist Stammkundin am Gumpendorfer Markt in Wien-Mariahilf und hat den nicht mehr benötigten Behälter dem leidenschaftlichen Bastler – man könnte auch „Upcycler“ sagen – überlassen. Überhaupt verfügt der noch relativ junge Betrieb über eine erstaunliche Zahl an Stammkunden: Neben einigen Restaurants sind das vor allem die Kunden der beiden Wochenmärkte in Gumpendorf vor der Ägidiuskirche und in Purkersdorf. Ein Großteil der Gänse und Enten, die jetzt noch fröhlich über die Weide watscheln, ist bereits für Martini reserviert. Auch die Tage der Fleischhühner sind gezählt – in deren spätestens zu Weihnachten frei werdende Ställe ziehen über den Winter Kärntner Brillenschafe und Pinzgauer Strahlenziegen, selten gewordene alpine Rassen, die derzeit im Freiland zwischen dem Geflügel grasen.
So kommt ein erstaunlich vielfältiges Sortiment an Produkten zusammen, das der ursprünglich auf Wachteln, Saft und Schnaps spezialisierte kleine Betrieb Woche für Woche unter die Leute bringt: Fleisch von der Wachtel und von Geflügel wie Freilandpute, Perlhuhn oder Weidegans, Kaninchen, Wachteljausenwürstel, Speck vom Turopolje-Schwein, Hühnereier in Schattierungen zwischen dunkelgrün und hellbraun, ein beachtliches Sortiment an Obstbränden und Fruchtsäften, vor allem aber natürlich: Wachteleier in allen erdenklichen Formen, roh im Zwölferpack oder gekocht, geschält und mit Chili, Zitronengras oder Kräutern eingelegt, Wachteleinudeln aus Buchweizen oder Dinkel, Wachteleierlikör und Wachteleierlikörschokolade.
Vieles davon ist aus der Not heraus entstanden. Alle 18 Stunden legt eine Wachtelhenne ein Ei, da kommt schon einiges zusammen. „Ich wusste nicht mehr, wohin mit den vielen Eiern. So habe ich zu experimentieren begonnen“, erzählt Manfred Seeböck. Heute sind die praktischen eingelegten Eier im Glas, die kalten Platten das gewisse Etwas verleihen, ein Renner. Auch die von seiner Frau gebackenen Mehlspeisen auf Wachteleibasis – für eine Wachtelei-Kardinalschnitte braucht es 36 Stück davon – finden reißenden Absatz. Bei der Arbeit hilft die ganze Familie: 5000 der äußerst haltbaren Eier lässt Seeböck zusammenkommen, dann geht es ans Kochen, Schälen und Einlegen.
Wie tief das stille Wasser ist, das man im manchmal verschmitzt, dann wieder beinahe schüchtern wirkenden Wachteleigründer erkennt, wird klar, wenn er über seine Zukunftspläne spricht: „Was man hier heute sieht, ist nur die Spitze des Eisbergs.“ Nächsten Sommer wird umgebaut, eine Zelthalle als Lagerraum, vor allem aber ein Erdstall soll die bestehenden Gebäude der Wachtelei erweitern. Ein solcher Stall bleibt im Winter warm und im Sommer angenehm kühl. Mit Wachteln hat dieses Projekt nichts zu tun. Seeböck will nicht etwa in die Massentierhaltung einsteigen, sondern Platz für neue Nischen schaffen: Weitere Schafe, vielleicht auch ein paar Exemplare selten gewordener Rinderrassen sollen den neuen Stall beziehen. Das Murbodner Rind, dessen Vorfahren bereits von den Kelten gezüchtet wurden, hat es ihm besonders angetan, doch noch will er sich nicht festlegen, geschweige denn mehr von seinen unter der Oberfläche heranreifenden Ideen preisgeben.
In seinem selbst geplanten, auch als Veranstaltungsraum genützten Hofladen erzählt Manfred Seeböck auch von den häufiger werdenden Nachahmern, die sogar seinen Slogan schamlos abkupfern – was er eher amüsant als ärgerlich findet: „Die Leute durchschauen das rasch und beschweren sich bei mir über die Kopierer, weil sie das Original wollen.“ Durch ein Panoramafenster schweift der Blick von hier über die weidenden Tiere der Wachtelei und weiter über das sanft gewellte, von Streuobstwiesen, Äckern und kleinen Wäldern überzogene Land. Stattlich thront ein riesiger, offenbar mehrmals erweiterter Vierkanter auf einem Hügel gegenüber. „Der gehörte einem richtigen Schweinebaron“, so Seeböck. „Der hat mehrere tausend Schweine gehabt. Doch niemand wollte den Hof übernehmen.“ Seit 15 Jahren steht er nun leer – es kommt eben nicht auf die Größe an. Am Donnerstag wird Manfred Seeböck wieder eine bunte Auswahl von Wachtelei-Produkten in seinen kleinen Transporter laden und nach Gumpendorf tuckern, wo ihn seine Stammkunden erwarten. Auf der Hecktür steht: „Fahren Sie mir nicht auf die Eier.“