Heute vor hundert Jahren begann die Schlacht von Verdun.
Ich bin vor fünf Jahren zum ersten Mal dorthin gefahren, um besser zu verstehen, was sich vor dieser Stadt im Jahr 1916 abgespielt hat. Das war zunächst eine totale Überforderung: Die Knochen von 130 000 nicht identifizierten Soldaten ruhen im Beinhaus von Douaumont, einem düster-monumentalen Betonmonstrum, umgeben von unzähligen Kreuzen und muslimischen Grabsteinen in Reih und Glied. Das alles erinnert an 300 Tage Stahlgewitter, 60 Millionen Granaten, 300 000 Tote, 450 000 Verletzte. Man kann diese Hölle besichtigen, aber begreifen kann man sie nicht.
Anders verhält es sich mit einem unscheinbaren Denkmal unmittelbar neben einer Straßenkurve der D 112 zwischen der Stadt Verdun und dem Schlachtfeld. Dort stehen ein paar unscheinbare alte Grabsteine, wie sie auf den provisorischen Friedhöfen zum Einsatz kamen, die während der Kämpfe hinter der Front angelegt wurden. Nach dem Krieg wurden überall im Kampfgebiet Nordostfrankreichs Militärfriedhöfe bzw. „nationale Nekropolen“ angelegt, bis 1924 waren 960 000 tote Soldaten auf diese Weise begraben.
Ursprünglich war es nicht vorgesehen, die Überreste der im Krieg Getöteten ihren Familien zurückzugeben. Erst als die illegalen Exhumierungen kein Ende nehmen wollten, lenkte der Staat ein und erlaubte ab 1920 die offizielle Rückerstattung der Leichname. 230 000 Tote wurden exhumiert und ihren Familien übergeben. Eine solche Zeremonie unweit von Fleury beschreibt ein gewisser Capitaine Marceau im Mai 1922.
Die Szene ist auf einer Schautafel wiedergegeben, ich habe den Text abgeschrieben. Anwesend sind die etwa 60-jährigen Eltern des Toten sowie seine Schwester. Das Skelett des Soldaten wird ausgegraben und auf ein Leichentuch gelegt. Capitaine Marceau schreibt: „Der Vater sagte kein Wort und vergoss keine Träne; plötzlich, als die Totengräber den Sarg verschließen wollten, setzte er das linke Knie auf die Erde, stützte sich mit der linken Hand auf dem gegenüberliegenden Rand des Sarges ab; er beugte sich über das Skelett, den Kopf genau oberhalb desjenigen seines Sohnes, und begann mit seiner rechten Hand den mit Erde bedeckten Schädel zu streicheln, die Finger gespreizt, als würden sie versuchen, durch das weiche Haar eines Kinderköpfchens zu streichen. Er betrachtete einen Moment den schrecklich grinsenden Schädel, und plötzlich sagte er leise: „Ist schon gut, armer Kerl!“. Dann richtete er sich wieder auf, mit ruhigem Gesicht, ohne Träne, riss eine Handvoll Gras aus um sich die Hand abzuwischen und ging, während er auf das Ende der traurigen Zeremonie wartete, auf der Straße auf und ab.“
Als die Familie – Mutter und Tochter beschreibt Capitaine Marceau nicht weiter – sich mit dem Sarg auf den Rückweg in die Pariser Vorstadt macht, schreibt der Offizier weiter: „Der Mann zündete seine Pfeife an, setzte sich vorne auf den Lieferwagen, neben den Chauffeur, steckte die Hände in die Westentasche und fuhr los, im Gepäck die traurigen Reste des schönen Burschen, der einst der ganze Stolz seines Lebens gewesen war.“