Emanuelle Bayamack-Tams zweiter auf Deutsch erhältlicher Roman, besprochen für die NZZ. Vielleicht nicht ganz so wild wie „Die Prinzessin von“, aber fast:
Drastisches von Emmanuelle Bayamack-Tam
Die Hölle, das ist die Familie
12.8.2014, 05:30 Uhr
Ein Traum, so alt wie die Pubertät: aufwachsen, ohne erwachsen zu werden. Kimberley, Ich-Erzählerin und Heldin von Emmanuelle Bayamack-Tams Roman «Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging», hat noch ein paar Gründe mehr für diesen Wunsch als die meisten anderen. Die Erwachsenen in ihrer Umgebung geben schlechte Vorbilder ab, allen voran ihre Mutter Gladys. Von einer Hasenscharte bzw. den Reparaturversuchen der plastischen Chirurgie entstellt, ist Gladys zur Einzelkämpferin geworden. Ihre Hässlichkeit kompensiert sie durch übertriebenen Sex-Appeal, übertriebene Fruchtbarkeit – Kimberley ist das mittlere von fünf Kindern – und übertriebenen Ehrgeiz bei der Planung der sportlichen Karrieren ihrer drei Töchter. Als diese scheitern, beginnt die Mutter eine Bühnenlaufbahn als Burleske-Stripperin. Am Ende der Show zieht sie sich eine Kette lebender Frösche aus der Vagina – vor den Augen ihrer Kinder, die sie zur Anwesenheit bei der Vorstellung zwingt.
Sonst vernachlässigt sie den Nachwuchs völlig. Auch die übrigen Erwachsenen in der Grossfamilie sind zu sehr mit eigenen Problemen beschäftigt, um sich um die Kinder zu kümmern. Diese wachsen in einer Atmosphäre absoluter Gleichgültigkeit auf, die sowohl als Schamlosigkeit wie als seelische Kälte spürbar wird: Beim Verrichten der Notdurft stehen die Türen weit offen, wenn Kimberley jedoch mit neun Jahren beim Masturbieren überrascht wird, ist sie dem Gespött der versammelten Familie preisgegeben. Sie beschliesst, das Geschlecht zu wechseln, zumindest vorerst. Ihr jüngster Bruder, aufgrund seiner roten Haare permanentes Mobbingopfer auf dem Pausenhof, zerbricht an der Indifferenz der Familie und erhängt sich.
Zuflucht vor dem familiären Horror findet Kimberley in der Literatur, vor allem bei Baudelaire und Victor Hugo. Doch noch zur jungen Frau geworden, finanziert sie ihr Literatur-Studium dann als Edelprostituierte; den Beruf erlernt sie ausgerechnet bei der ehemaligen Hebamme, die ihre eigene Mutter zur Welt geholt hat. Keine Frage: Dieser etwas «andere» Entwicklungsroman strotzt nur so vor grotesken Einfällen, unwahrscheinlichen Volten und Übertreibungen. Die mitunter ziemlich schrille Obszönität der Handlung bildet jedoch nur seine Oberfläche. Darunter liegen pure Trostlosigkeit und gläserne Härte.
Die Autorin, die bereits in ihrem fulminanten Dragqueen-Roman «Die Prinzession von» bewiesen hat, mit welcher Präzision sie jede noch so ungewöhnliche Sexualpraktik sprachlich zu sezieren versteht, schildert Kimberleys Aufwachsen im ganz normalen Familienhorror, alltägliche Brutalität auf dem Pausenhof wie auch die Erkundungen des Körpers detailliert, mit kühlem Blick und in kristallinen Sätzen, die nur in der deutschen Übersetzung gelegentlich etwas schwerfällig wirken. «Ich begehe sicherlich einen Fehler damit, bei den Erwachsenen ein wenig Weisheit finden zu wollen, denn schliesslich haben sie nichts anderes zu erzählen als ihre Irrungen», so fasst Kimberley die Erkenntnisse ihrer Lehrjahre zusammen. Von der alten Prostituierten, mit der sie zusammenarbeitet, lernt sie doch noch eine Weisheit, die ihr stimmig scheint: «Eine Schwalbe macht meinen Sommer.» Wer mehr erwartet, wird enttäuscht werden.
Emmanuelle Bayamack-Tam: Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging. Roman. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac. Secession, Zürich 2014. 345 S., Fr. 35.70.