Sehenswerte Ausstellung, lesenswertes Buch: Wien als „Epizentrum des Zusammenbruchs“ während des Ersten Weltkriegs: Hier die NZZ-Besprechung:
Das Trauma des Ersten Weltkriegs
Wiens Weltuntergang
Georg RenöcklWer gelegentlich über die Untiefen des Wiener Wesens nachsinnt, landet früher oder später bei einem der grossen kollektiven Traumata dieser Stadt: dem brutalen Übergang von der glanzvollen Metropole der Donaumonarchie zum hungerleidenden Wasserkopf einer zusammengestutzten Republik, die keiner wollte. Keine andere europäische Hauptstadt erlebte eine ähnliche Demütigung und einen ähnlichen Bruch in ihrer Identität, keine verlor den Weltkrieg so vollkommen wie Wien. Umso erstaunlicher, dass die für das kollektive Unbewusste so entscheidende Epoche in der Erinnerungskultur der Stadt kaum verankert ist: Publikationen und Ausstellungen zum Thema gab es bisher so gut wie nicht.
Warum so dürftig?
Mit der Ausstellung «Wohin der Krieg führt» behebt die im Labyrinth des Rathauses angesiedelte Wien-Bibliothek diesen Missstand. Ihre Stationen zeigen Plakate, Postkarten, Kochrezepte und Alltagsgegenstände aus den vier Kriegsjahren. Sie führen vom überschwänglichen Patriotismus zu Kriegsbeginn, als Parolen wie «Serbien muss sterbien» in aller Munde waren, über die Enttäuschung angesichts des ungünstigen Kriegsverlaufs, den einsetzenden Mangel an Waren aller Art («Sammelt Obstkerne!») und die immer verzweifelteren Durchhalteparolen bis zu einer Schautafel mit dem Titel «Die sterbende Stadt». Schockierende Videoaufnahmen dokumentieren das Leid der mangelernährten Wiener Kinder im Jahr 1918 und zeigen einen weiteren, oft übersehenen Aspekt der «Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts» aus Wiener Sicht: Nicht nur die vom Krieg zerrütteten Soldaten, auch die körperlich und seelisch verwahrlosten Kinder Wiens galten früh als «verlorene Generation».
So niederschmetternd sehenswert die Schau im Wiener Rathaus auch ist: Man verlässt den einzigen Raum, aus dem sie besteht, zwangsläufig etwas unbefriedigt: Wäre da nicht mehr, viel mehr zu sagen und zu zeigen gewesen? Gab es abseits des ins nackte Elend kippenden Alltags nicht auch noch Musik, Literatur, Politik, Architektur in dieser Stadt, die auf ihre Weise mit den Zwängen des Krieges umzugehen hatten?
Das von den Historikern Alfred Pfoser und Andreas Weigl herausgegebene Buch «Im Epizentrum des Zusammenbruchs», das wohl kaum als Begleit-, sondern vielmehr als Erweiterungsband zur Ausstellung zu verstehen ist, schafft Abhilfe. Auf stattlichen drei Kilogramm Papier zeigen sechzig Aufsätze ein umfassendes Panorama des Wiener Lebens zur Kriegszeit. Sie spannen den Bogen von Politik und Verwaltung der Monarchie und der Gemeinde über die Rolle der Frauen in der Kriegswirtschaft und die Verelendung der mittleren Gesellschaftsschichten bis zu den Auswirkungen des Krieges auf die Stadtentwicklung und selbst den Tiergarten Schönbrunn. Der nicht nur von seinen Ausmassen her kolossale Band verspricht viele Stunden faszinierender Lektüre, ist reich bebildert und bereitet seine Themen übersichtlich und zugänglich auf. Er fand bereits am Eröffnungsabend der Ausstellung reissenden Absatz, als der Ansturm Interessierter den gemieteten Festsaal aus allen Nähten platzen liess.
Fehlende Gedächtnisorte
Dieser Erfolg überführt die Herausgeber aber auch eines Irrtums: Der Satz «An ein grosses Debakel will niemand erinnert werden» mag das Fehlen von Gedächtnisorten für den Ersten Weltkrieg im Stadtbild erklären. Er gilt aber offenbar nicht mehr für das heutige nachgeborene Wiener Publikum. Immerhin liegt mit «Im Epizentrum des Zusammenbruchs» nun ein Band vor, der das Zeug zum Standardwerk hat. Dass Wien jedoch hundert Jahre nach dessen Ausbruch keine wirklich grosse und bedeutende Schau zum Ersten Weltkrieg zustande bringt, ist peinlich.
«Wohin der Krieg führt» – Ausstellung in der Wienbibliothek im Rathaus, 1010 Wien, Eingang Felderstrasse. Bis 23. Mai 2014. Alfred Pfoser und Andreas Weigl (Hg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg. Metroverlag, Wien 2013. 692 S., Fr. 46.90.