Der Goncourt vom letzten Jahr: Ein Debütroman, über 700 Seiten dick (Gewicht: siehe oben). Für mich ein etwas zwiespältiger Eindruck: Passagenweise großartig, über die ganz lange Strecke aber etwas ermüdend bzw. vorhersehbar. Hier gehts zur etwas kürzeren Fassung meiner Besprechung vom letzten Falter. Gleich im Anschluss unten die ungekürzte:
Ein Kilogramm Blut, Schweiß und Tränen
Schwerer Brocken: Alexis Jennis Beschreibung der Freiheits- und Kolonialkriege Frankreichs von 1942 bis 1962.
Das literarische Pendant zum Etikettensäufer ist der Literaturpreisträgerleser. Beide lieben Frankreich, letzterer vor allem wegen des Prix Goncourt, der jeden November im Pariser Nobelrestaurant Drouant verliehen wird und als eines der prestigereichsten Literatur-Etiketten überhaupt gilt. 2011 war ein starker Jahrgang, zumindest optisch: Ehrfurchtgebietende 750 Seiten ist der nun auch auf Deutsch erhältliche Goncourt-Preisträger „Die französische Kunst des Krieges“ dick – ganz schön viel für einen Debütroman (ja, das auch noch!).
Sein Autor heißt Alexis Jenni, ist 49 Jahre alt, im Brotberuf Biologielehrer. In Interviews verweist er auf seine vielfältigen Interessen, die ihm zuvor einfach nicht die Zeit zum Schreiben gelassen hätten. Angesichts seines Projekts kein Wunder: In dreizehn Kapiteln rollt Jenni ein episches Schlachtengemälde vor seinen Lesern auf, das die Jahre von 1940 bis 1962 zu Frankreichs „zwanzigjährigem Krieg“ erklärt und auch noch für dessen Auswirkungen auf die Gegenwart Platz findet. Die Schauplätze: Die Wälder des von den Nazis unterworfenen Frankreich, die um ihre Unabhängigkeit kämpfenden Kolonien Indochina und Französisch-Algerien, die Wohnsilos der Banlieue von Lyon.
Hauptfigur der Romans ist ein französischer universal soldier namens Victorien Salagnon, ein begabter Zeichner, der sich als 17-Jähriger in der Résistance engagiert. Tief erschüttert von der Grausamkeit des Krieges findet er danach keinen Platz mehr in der Gesellschaft. Er lässt sich zum Berufssoldaten ausbilden und kämpft bald Seite an Seite mit vormaligen SS-Soldaten, die bei der Fremdenlegion angeheuert haben, gegen Viet Minh-Kämpfer und aufständische Algerier. Victorien erwirbt sich den Nimbus der Unsterblichkeit, während er seelisch zugrunde geht. Er überlebt die gefährlichsten Einsätze, brennt Dörfer nieder, foltert und tötet Kriegsgefangene und Zivilisten. Jahrzehnte später lebt er zurückgezogen in einer von arabischstämmigen Neo-Franzosen bewohnten Banlieue, gibt Zeichenunterricht und erzählt seine Kriege einem seiner Schüler, dem Erzähler des Romans. Dieser – ein an Beruf und Beziehung gescheiterter Außenseiter – unterbricht Salagnons Kriegsberichte regelmäßig durch „Kommentare“, in denen er die Banlieue und ihre gewaltbereiten Bewohner beschreibt und über die französische Gesellschaft nachdenkt.
Wenn auch die viel gelobte Eleganz von Jennis Sprache in der deutschen Übersetzung eher gestelzt herüberkommt („sie hätten ihre Kleider ablegen können, ohne dass ein Schauer über ihre Haut gelaufen wäre“), finden sich im Roman zahlreiche grandiose Passagen. Alexis Jenni ist ein brillanter Beschreiber: Den ausgebrannten Innenraum eines deutschen „Tiger“-Panzers etwa, den Victorien von den Überresten seiner zerfetzten und verkohlten Besatzung reinigen muss, vergisst man nach dem Lesen nicht so schnell.
Der ganz große Wurf, als der der Roman vermarktet wird, ist Jenni dennoch nicht gelungen. Dafür ist „Die französische Kunst des Krieges“ schlicht zu vorhersehbar. Die Stationen von Salagnons Reise sind jedem Leser, der Frankreichs jüngere Geschichte auch nur ansatzweise kennt, von vorneherein klar. Anders gesagt: Jenni erzählt nicht in erster Linie vom Leben des Victorien Salagnon, er erzählt die Geschichte dreier Kriege, die Frankreich im 20. Jahrhundert geführt hat. Salagnon ist weniger eine Romanfigur als ein Lehrbuchbeispiel zur Illustration. Dementsprechend papieren wirkt er, trotz der Blutspur, die er hinter sich hierzieht.
Eine weiteres Problem, das die Struktur des Romans mit sich bringt: Er ist trotz seiner Dicke zu dünn, um darin Résistance und Kollaboration im besetzten Frankreich, den Indochina-, den Algerienkrieg und auch noch die aktuelle Banlieue-Misere nebeneinander unterzubringen. Der Autor muss sich notgedrungen mit besonders exemplarischen Episoden begnügen, was das Buch zum makabren Best-of macht: deutsche Massaker an französischen Dorfbewohnern, französische Fallschirmjäger auf wilder Flucht durch den vietnamesischen Dschungel, Bombenterror und Folter in Algier, der versuchte Offiziersputsch gegen den General de Gaulle, Gewalteruptionen im Vorstadtghetto. Alles überprüfbar, alles genau recherchiert, und doch ein bisschen viel für einen einzigen Soldaten, der in den Feuerpausen dann auch noch über Dinge wie die Zeichenhaftigkeit des revolutionären Kampfes philosophieren muss.
Gegen Ende des Romans, als die systematische und unvermeidliche Grausamkeit moderner Kriegsführung hinlänglich demonstriert ist, geht es zunehmend um die aktuellen Probleme der französischen Gesellschaft, die sich vor allem in den Banlieues konkretisieren: „Wenn die Nation auf dem Willen des Zusammenlebens basiert, zerfällt die unsere in dem Maße, wie neue Viertel und neue Siedlungen entstehen und Untergruppen sich vervielfachen, die sich nicht mit anderen vermischen“, referiert der Erzähler, während Salagnon eine nüchterne Bilanz über sein Leben zieht: „Wir haben uns erhoben und haben die Kraft wiedergefunden, die uns gefehlt hatte; aber wir haben sie anschließend für wirre und letztlich schändliche Ziele eingesetzt. Wir hatten die Kraft und haben sie verloren, und wir wissen nicht genau wo. Das Land grollt uns deswegen, dieser zwanzigjährige Krieg hat nur Verlierer hervorgebracht, die sich gegenseitig mit leiser Stimme in gehässigem Ton beschimpfen. Wir wissen nicht mehr, wer wir sind.“
Die Kulisse für dieses und ähnlich gelehrsame Gespräche bilden brennende Barrikaden und aufmarschierende Elite-Polizeitrupps in der Banlieue. Damit ist auch klargestellt, was gemeint ist, wenn Salagnon etwas kryptisch klingende Sätze von sich gibt wie: „Falls Kriege das Ziel verfolgen, eine Identität zu begründen, dann haben wir das Wesentliche verpasst.“ Der Vorteil der Eindeutigkeit ist auch ein Nachteil: Die Moral von der langen Geschicht‘ möchte man sich als Leser eigentlich ganz gern selbst zusammenreimen, anstatt sie in ziemlich steifen Dialogen nachzulesen. Vielleicht hätte Jenni seinen Text auf zwei Bücher aufteilen sollen: Einen Roman und einen Essayband.