Dober dan, tristesse

Hier die Besprechung eines Romans über den Kroatienkrieg, aus dem letzten Falter (auch hier nachzulesen):

In „Hotel Nirgendwo“, dem Debütroman von Ivana Bodrožić, verwandelt sich ein Hotel in ein Flüchtlingslager

Ein Vertriebener ist kein Flüchtling. Jedenfalls nicht für die namenlose Ich-Erzählerin in Ivana Bodrožićs Roman „Hotel Nirgendwo“: Flüchtlinge, so nennt man die Bosniaken. Sie hingegen, ihre Mutter und ihr Bruder wurden von den Serben aus Vukovar vertrieben, während ihr Vater die Stadt als kroatischer Patriot bis zum letzten Augenblick kämpfend verteidigte.
Das Herumreiten auf der semantischen Nuance mag für Außenstehende schwer nachvollziehbar sein, für die Erzählerin ist es wichtig: Ihr ganzes Selbstbewusstsein gründet darauf, sehr viel mehr ist ihr nicht geblieben. Nach einer Irrfahrt durch Kroatien ist sie mit Mutter und Bruder in einem Hotel gestrandet, das zur provisorischen Unterkunft für die Vertriebenen aus Slawonien umfunktioniert wurde. Bald stellt sich heraus: Wer einmal hier ist, kommt so schnell nicht wieder weg.

Der Vater ist seit dem Massaker von Vukovar verschollen, die Mutter depressiv, das Zimmer von Kakerlaken verseucht. Die Pubertät dieses Mädchens beginnt unter denkbar tristen Umständen. Deren wichtigste Stationen – erste Regel, erster Zungenkuss, erster Vollrausch usw. – sind dennoch die ewig gleichen. Die existenzielle Ausnahmesituation, in der sich die Familie befindet, wird schnell zum vertrauten Rahmen für das Dahingeplaudere einer heranwachsenden Erzählerin, die nicht immer begreift, was um sie herum gerade vorgeht, Episode an Episode reiht und dabei stets um Unmittelbarkeit bemüht ist.
Das liest sich dann etwa so: „Ich sehe ihn. Er steht in der Mitte des Zimmers und spielt Luftgitarre. Er ist älter. Mit Sicherheit ist er älter, denke ich, vielleicht ist er sogar schon Maturant, er ist wirklich wahnsinnig anziehend, solche Typen kenne ich sonst gar nicht.“ Oder so: „Allein die Tatsache, dass wir uns an einem derart legendären Ort befanden, der uns durch seine Aura den Erwachsenen ebenbürtig machte, erregte uns in einem unbeschreiblichen Maße.“

Der Wechsel zwischen einem überdrehten, zu Foto-Lovestorys passenden Stil einerseits und bemüht-gestelzten Formulierungen andererseits entspricht natürlich einer pubertierenden Erzählerin, genauso wie das Ignorieren der Grenze zwischen Pathos und Peinlichkeit. Schade ist nur, dass es die stets wortreich geschilderte Erregung dabei schwer hat, auf den Leser überzugehen. Dafür bleibt der Text zu sehr dem Genre Erlebnisaufsatz treu, es fehlt ihm einfach an Sprachwitz. Vom Lektorat übersehene Stilblüten und wohl der Übersetzung geschuldete Holprigkeiten kompensieren diesen Mangel nur schlecht.
Es gibt starke Momente in „Hotel Nirgendwo“ – etwa wenn die Erzählerin für ein paar Wochen von einer italienischen Familie aufgenommen wird. Diese bemüht sich, eine zweite „bambina jugoslava“ als Ansprechpartnerin für das schüchterne Gastkind aufzutreiben. Dieses andere Mädchen kommt aus Belgrad und ist froh, sich endlich wieder einmal auf „Jugoslawisch“ mit jemandem unterhalten zu können. Die aus Vukovar Vertriebene bringt daraufhin kein Wort heraus außer der Behauptung, sie verstehe nur Kroatisch.

Einige Seiten später wird klar, warum. In ihrer Fantasie sind Serben „Boten der Hölle, sie ähneln den Menschen nur bis zu einem gewissen Grad, sie haben zwar Hände und Beine, aber sie benutzen diese nur, um zu töten, um Menschenkehlen durchzuschneiden, um zu vergewaltigen“. Wenn sie sich den Tod ihres Vaters vorstellt, ist einer seiner Henker ausgerechnet ein ehemaliger serbischer Arbeitskollege, „dessen hochschwangere Frau er damals mitten in der Nacht ins Krankenhaus gefahren hatte“.
Der Erzählerin und dem Leser ist klar, dass es sich bei dieser Szene um einen Film handelt, der ausschließlich in ihrem Kopf spielt. Ganz wohl kann einem bei solchen Passagen dennoch nicht sein. Die Realität des Krieges im ehemaligen Jugoslawien, soweit wir sie kennen, ist schwer genug zu begreifen. Die von der Erzählerin vorgestellte Version des Geschehens, die das Grauen auf die höchstmögliche Stufe schraubt, zeigt vor allem eines: Die 20 Jahre seit dem Fall Vukovars und der Unabhängigkeit Kroatiens sind für die Bewältigung vieler Traumata eine zu kurze Zeit.

Georg Renöckl in Falter : Wien 11/2012 vom 14.3.2012 (Seite 27)

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