Wie hoch die Wasser steigen

Am 15. April im Ö1-Bücherradio Ex libris besprochen: Anja Kampmanns Roman „Wie hoch die Wasser steigen“:

 

Victor Hugo war einer der ersten, der den „Arbeitern des Meeres“ mit einem Roman ein literarisches Denkmal setzte. Der Fischer Gilliat kämpft darin auf einer Felseninsel um die Dampfmaschine eines gekenterten Schiffs und muss gegen Sturm, Wellen und einen gefräßigen Riesenkraken bestehen. Erfolgreich zurückgekehrt erkennt er, dass die verehrte Frau einen anderen liebt, und wählt den Freitod im Meer. Damit sind schon einige Parameter für die noch folgenden Romane festgelegt, die sich im Themenkreis „Meer und Technik“ bewegen: Die Elemente sind auf hoher See besonders ungestüm und entsprechend schwer zu beherrschen, die Arbeit ist hart, beziehungstechnisch ist es noch härter, und ob man jemals wieder festen Boden unter die Füße bekommt, ist ungewiss.

Seit Victor Hugos Roman sind gut hundertfünfzig Jahre vergangen, zahllose Leuchtturmwärter, Schleppnetzfischer und anderen Arbeiter des Meeres bevölkern seither die Weltliteratur. Die Faszination der einsamen Männer, die weit draußen vor der Küste den Wellenbergen und den Stürmen trotzen, damit wir es am Festland behaglich und warm haben, ist aber ungebrochen.

Waclaw und Matyas sind zwei von ihnen. Sie arbeiten auf Ölplattformen, werden stets gemeinsam von Einsatz zu Einsatz geschickt und sind wohl mehr als „nur“ enge Freunde. Eines Nachts im schweren Sturm vor der marokkanischen Küste holt der neue Plattform-Manager, der tatsächlich eine Krawatte trägt, seine Arbeiter viel zu spät ins sichere Plattform-Innere. Matyas kehrt nicht von seinem Posten zurück. Niemand weiß, was geschehen ist: Eine Welle dürfte ihn ins Meer gespült haben, vielleicht ist er auch abgerutscht und wurde irgendwo in der Bohrmechanik zerquetscht.

Für Waclaw, die Hauptfigur in Anja Kampmanns Debütroman „Wie hoch die Wasser steigen“, reißt mit dem Tod des Lebensmenschen der letzte Faden, der ihn bis dahin noch halbwegs auf Kurs gehalten hat. Der Ölarbeiter, dessen Vater sich noch beim Kohleabbau im Ruhrpott eine Staublunge geholt hat, macht sich auf den schwierigen Weg zurück aufs Festland, fernab der künstlichen Inseln und Transitzonen, in denen ölverschmierte Männer auf Hubschrauber warten. Auch wenn Waclaws Reiseroute zunächst noch unklar und von spontanen Impulsen diktiert erscheint, steht ihr Ziel doch von Anfang an fest: Es wird zu einem Wiedersehen mit Milena kommen müssen, seiner großen Jugendliebe.

Immer wieder zitiert der Roman Erinnerungsfetzen mit Gesprächsausschnitten, die sich um die einst geplante Familiengründung der beiden drehen. Die Aussicht auf das große Geld und das große Abenteuer auf den Plattformen, die stets viel zu kurzen Ruhephasen zwischen den Einsätzen, die Zweckgemeinschaft von Männern aus aller Herren Länder, die rauen Sitten, das Leben im ständigen Übergang von einem Nicht-Ort zum nächsten – all das hat Waclaw und Milena immer weiter voneinander entfernt. Flüchtige Liebschaften zu anderen Frauen, vor allem aber die tiefe Beziehung zu Matyas sind für Waclaw an Milenas Stelle getreten. Irgendwann ist er nicht mehr in jeder Ruhepause zur ihr zurückgekehrt, später hat sie ihn gebeten, nicht mehr anzurufen.

 

Der Debütroman der 1983 in Hamburg geborenen Anja Kampmann liest sich also wie ein verkehrter, wie ein Rück-Entwicklungsroman der Hauptfigur Waclaw, wobei natürlich klar ist, dass der Weg zurück, den so viele reale und fiktive Figuren schon einzuschlagen versucht haben, versperrt ist.

Es liegt aber nicht an Waclaws unrealisierbarem Vorhaben, dass der Roman nur zäh vom Fleck kommt. Als er nach Ungarn fliegt, um Matyas‘ Schwester über das Unglück zu informieren, heißt es etwa, Waclaw „wartete, bis früh um fünf die Triebwerke der Boeing die Luft ansaugten und das Kerosin in die Brennkammern gespritzt wurde.“ Man könnte natürlich auch sagen, dass das Flugzeug startete, doch in Anja Kampmanns Roman geht es nicht um geradliniges Erzählen, sondern um das Gegenteil: Waclaw ist seinem früheren Leben völlig entfremdet und muss sich neu orientieren, vieles erlebt er seit Jahren erstmals wieder bewusst, vieles vielleicht wirklich wie zum ersten Mal. So gesehen ist es zunächst also durchaus stimmig, wenn auch im Roman Alltägliches neu betrachtet, anders zerlegt und anders wieder zusammengesetzt wird als gewohnt.

Der Grat zwischen einer solchen Poetisierung des Alltäglichen und Effekthascherei ist allerdings schmal. Nicht immer erweist sich die Erzählerin als trittsicher, etwa bei zahlreichen Vergleichen, die nur schlecht in die Gedankenwelt eines an Land gegangenen Plattform-Arbeiters passen: Schritte klingen „hohl wie das Bellen von großen Hunden in der Dämmerung“, in Kirchtürmen hängen „Glocken wie ein vergessener Chor“, die Alpen sehen aus „wie Ausläufer einer anderen Welt“, Wasser ist „klar und kalt und älter als das niedrige Haus und das Leuchten der Provinz und älter als die Stille der Wiesen ringsum.“ Das Gurgeln eines Baches klingt für Waclaw „wie das große Echo von etwas, das er nicht verstand.“

Im Lauf der Lektüre fühlt man sich immer öfter wie Waclaw angesichts dieses unverständlichen Wassers. Anja Kampmanns Roman plätschert nicht eben fröhlich, sondern mäandert rätselhaft murmelnd vor sich hin. Nicht nur das eine oder andere Bild gerät unscharf oder wirkt überfrachtet, auch die Handlung ist von einem Hang zur Verrätselung um ihrer selbst willen geprägt. Der Roman ist voll von sicherlich düsteren, vor allem aber stets ungeklärt bleibenden Geheimnissen und wird von Figuren bevölkert, die an allerlei Kindheitstraumata oder anderen seelischen Beschädigungen leiden dürften. Das meiste bleibt aber in der Schwebe, sodass der Eindruck entsteht, als würde die Erzählerin ständig in raunendem Tonfall „Ich seh‘, ich seh‘, was du nicht siehst“ mit ihren Lesern spielen, aber ohne zu verraten, worum es gerade geht. Ob sie es selbst immer so genau weiß, ist unklar.

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