Eine NZZ-Rezension der „rhapsodischen Erzählung“ Eric Vuillards von der grausamen Kolonialgeschichte des Kongo:
Obwohl sie recht dünn sind, passen sie in keine der gängigen Schubladen: Die beiden Bände «La bataille d’occident» und «Congo» des 1968 geborenen französischen Autors und Filmemachers Eric Vuillard – im Original als Diptychon erschienen – werden zwar im Untertitel als «récit» bezeichnet, man bekommt diese eigenwilligen Texte zum Ersten Weltkrieg und zur Kolonisierung so aber nicht zu fassen. Eine elegante Lösung zur Einordnung schlägt der Verlag Matthes & Seitz vor, bei dem die Bücher auf Deutsch erscheinen: Vuillard schreibe «rhapsodische Erzählungen». Tatsächlich passt das Bruchstückhafte, lose Verbundene der «Rhapsodie» hier ziemlich genau.
Virtuosität ist noch so ein Merkmal, das genannt werden muss: Gerade einmal 166 glänzend geschriebene Seiten braucht Vuillard in der 2014 auf Deutsch erschienenen «Ballade vom Abendland», um mit dem Ersten Weltkrieg fertig zu werden – eine Chuzpe mitten in der Materialschlacht von dicken Wälzern, mit denen man dem gigantischen Desaster zum Hundertjahrjubiläum überall sonst zu Leibe rückt. Mit elegant gedrechselten Sätzen voll bitterer Ironie schreibt Vuillard über die Frühlingsgefühle der Jugend von 1914, das Attentat von Sarajevo, die ehrgeizigen Pläne einiger Generäle und das Grauen des sich festfahrenden Krieges. Er liefert eine dichte, kurze Schilderung des «Grossen Kriegs», ohne Vollständigkeit anzustreben und ohne den Eindruck zu erwecken, dass etwas fehle.
Blanker Horror
Ein ähnliches Verfahren wendet er im nun ebenfalls übersetzten «Kongo» an. Das Buch beginnt mit der Berliner Kongo-Konferenz von 1884/85, bei der die europäischen Mächte über das Schicksal des Gebietes entschieden – es wurde zur Privatkolonie des belgischen Königs Leopold II. –, und setzt sich dann ausschnitthaft mit der Inbesitznahme und Ausbeutung des an Kautschuk reichen Landes auseinander, Porträts einiger zentraler Handelnder und Querverweise in die Gegenwart inklusive. Es ist freilich schwerer, in diese Erzählung hineinzufinden als in die vorangegangene. So leichtfüssig Vuillard den Sommer 1914 und die schicksalshaft anmutenden Verstrickungen beschreibt, die Europa in die Tragödie führten, so holzschnittartig wirken die Karikaturen der europäischen Belle-Epoque-Diplomaten, die sich in Berlin über die Landkarte Afrikas beugen.
Erst nachdem er die Kongo-Konferenz hinter sich gelassen hat, findet Vuillard zu seiner Stärke zurück, die sich am besten dort entfaltet, wo die Frage nach Gut oder Böse angesichts des Unfassbaren in den Hintergrund rückt. Wieder gelingt es ihm, auf erstaunlich wenig Platz erstaunlich viel vom blanken Horror unterzubringen, der nach der Berliner Konferenz über die am Kongo lebenden Menschen hereinbrach. Europas Industrie gierte nach Kautschuk, sie mussten ihn liefern. Die Fotos grausam verstümmelter Männer, Frauen und Kinder, denen Gliedmassen abgehackt wurden, gingen um die Welt. «Ich werde so gut wie nichts dazu sagen. Das Böse verletzt uns sinnlos; und es ist langweilig», erklärt hingegen der Erzähler zu dieser von einem Kolonialbeamten namens Victor-Léon Fiévez eingeführten Praktik.
Die Hände dienten als Beweisstücke dafür, dass die Kugeln nicht verschwendet, sondern zur Bekämpfung Aufständischer eingesetzt worden waren. «Ein paar Worte: Man fängt Sie, man peitscht und tötet Sie. Man beugt sich über Ihre Leiche und hackt Ihnen die Hand ab. Das ist alles. Nicht nötig, mehr darüber zu verlieren.» Da viele Kugeln beim Wildern verschossen wurden, hackten belgische Söldner immer häufiger auch Lebenden die Hände ab, um sie vorweisen zu können.
Ein Loch in der Seele
Zehn Millionen Menschen starben im Kongo, damit sich der belgische König bereichern konnte, doch genaue Zahlen und Fakten interessieren den «rhapsodischen» Erzähler, der bewusst Schlaglichter und Momentaufnahmen aneinanderreiht, weniger. Er beschreibt dafür Bilder verstümmelter Kinder, die «anrührendsten Fotografien der Welt». Hier ist nichts mehr von der kaltschnäuzigen Ironie spürbar, die den Text über weite Strecken prägt: «Yoka, dem die Fiévez-Männer und das Fiévez-Gesetz die Hand abgehackt haben, steht vor uns, mit verschlossenem Gesicht, und sieht uns durch ein kleines Loch in seiner Seele an. Gott, wie tut das weh, eine Seele! Wie klein und welche Wucht!»
Nicht zufällig sind wir damit bei Gott gelandet, mit dessen delirierender Anrufung «Kongo» nach gut hundert immer eindringlicher werdenden Seiten endet. Karl Kraus prägte einst das Bild eines fassungslosen Gottes, der den Toten des Ersten Weltkriegs ein «Ich habe es nicht gewollt» hinterherstammelt. Eine andere Antwort ist auch im Anschluss an Vuillards Erzählung kaum vorstellbar.
Eric Vuillard: Kongo. Erzählung. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Berlin, Matthes & Seitz 2015. 128 S., Fr 23.90. Eric Vuillard: Ballade vom Abendland. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Berlin, Matthes & Seitz 2014. 166 S., Fr 21.–.