Hier mein Beitrag zur Zentralmatura-Debatte:
Genug der Literatur
Österreichs Mut zur Bildungslücke
22.10.2014, 05:30 Uhr
«Literatur ist Teil der standardisierten Reifeprüfung, und das ist gut und genug so», liess Österreichs Unterrichtsministerin Gabriele Heinisch-Hosek unlängst verlautbaren. Es ging dabei wohlgemerkt um die Reifeprüfung im Fach Deutsch. Mehr noch als die Notwendigkeit einer solchen Klarstellung befremdet ihr Inhalt: Hier wird nicht über die Art und Weise verhandelt, wie mit Literatur umzugehen sei, und auch längst nicht mehr über Kanonfragen oder Ähnliches debattiert. Kritiker haben gefälligst froh zu sein, dass Literatur bei der Matura überhaupt irgendwie vorkommt, und damit basta.
Zu behaupten, das sei «gut so», ist mehr als kühn: So wurde den Maturanden beim missglückten Probegalopp für die nun trotz allem eingeführte österreichische Zentralmatura ein miserabler Text mit Nazi-Hautgout vorgelegt. Macht nichts, immerhin war’s ein Stück Literatur, und mit Kontextfragen wollte man die Prüflinge ohnehin nicht behelligen: Nicht die deutsche oder österreichische (Literatur-)Geschichte stand bei der Reifeprüfung in Deutsch im Vordergrund, sondern das Thema «Verantwortung gegenüber Umwelt und Gesellschaft» bzw. der Drei-Schluchten-Staudamm in China. Auf diese Weise benutzt, wird Literatur schnell mehr als «genug so»: dann lieber gleich weg damit.
Ihre Herabstufung zum blossen Impulsgeber für Diskussionen über scheinbar Wichtigeres hat zwei Gründe: Zentralisierung und «Kompetenzorientierung». Vermeintlich altmodisches Wissen wird durch vermeintlich topaktuelle Fertigkeiten alias Kompetenzen aka Skills ersetzt. Diese sollen Jugendliche anhand möglichst leicht vergleichbarer schriftlicher Arbeiten beweisen. Dazu braucht es wiederum einen Textsorten-Kanon, dessen Beherrschung zum alleinigen Ziel des Deutschunterrichts in der Oberstufe geworden ist. Der Weg führt direkt in die pädagogische Steinzeit: «Skill» reimt sich auf Drill.
«Gut» ist in Österreich eine Lehrkraft dann, wenn sie ihre Schüler möglichst intensiv im Verfertigen der vom Ministerium festgelegten Textsorten trainiert. Lesen um des Lesens willen, das Wecken intellektueller Neugier, Lust an der Erkenntnis: Schnee von gestern. Die nun stupide einzuübenden Textsorten wirken noch dazu willkürlich zusammengeschustert und sind von fragwürdiger Relevanz. Leserbriefe mit geforderten 500 Wörtern Länge oder eine zu Matura-Ehren gelangte «Empfehlung» sorgen genauso für Kopfschütteln wie die plötzlich aufgetretene Notwendigkeit, alle Maturanden des Landes das Schreiben offener Briefe üben zu lassen. Der in Wien lehrende Bildungsforscher Stefan Hopmann bringt die Situation auf eine recht einfache Formel: Zentralisierte Testbarkeit und «Kompetenzgeschwurbel» sind mit der Erziehung zu selbständigem Denken nicht unter einen Hut zu bringen.
Blosse Spekulation ist vorerst, ob diese Misere nun ein Symptom intellektueller Unbedarftheit oder österreichischer Wurstigkeit ist, oder vielmehr Teil einer perfiden Strategie mit welchen Zielen auch immer. Wahrscheinlicher ist, dass wir bloss einen weiteren Sieg der Erbsenzähler erleben, denen zähl- und damit «evaluierbare» Quantität grundsätzlich lieber ist als die sperrige, recht schwer in ein Raster zu pressende Qualität. Zumindest die von den Lehrern anzuwendenden Beurteilungsraster mit 120 anzukreuzenden Kästchen pro Schülertext legen diesen Schluss nahe: Indem man es in lauter winzig kleine Teilurteile zerlegt und diese dann addiert, soll ein zwangsläufig subjektives Urteil in ein objektives verwandelt werden. Gut, dass Lehrer, die nächtelang über sinnlosen Tabellen brüten, keine Energie mehr zum Nachfragen haben.
Die österreichische IG Autoren fordert unterdessen, das Fach «Deutsch» – es hiess einmal verschämt «Unterrichtssprache» – in «Deutsch und Literatur» umzubenennen. Angesichts der nun einmal getroffenen Entscheidungen purer Etikettenschwindel. Der Gesundheit zuträglicher scheint es, dem von der Ministerin propagierten Mut zur Bildungslücke Positives abzugewinnen. So freut sich der Wiener Germanist Werner Michler öffentlich über das Verschwinden der Literatur aus der Schule, denn «vielleicht ist ihr damit ein guter Dienst geleistet, wenn man sieht, was dort an höchster Stelle mit ihr angestellt wird».