Françoise Frenkels bewegende Erzählung ihrer Flucht vor den Nazis, für den Falter rezensiert:
Brisante Flaschenpost von 1945
Ein Zufallsfund sorgt für Furore: der Bericht einer jüdischen Buchhändlerin über ihre Flucht vor den Nazis
Nur wer nicht suchet, der findet – das weiß jeder, der sich gelegentlich auf Flohmärkten herumtreibt. Es ist daher auch nicht anzunehmen, dass der Autor Michel Francesconi, als er im Jahr 2010 auf einem Flohmarkt in Nizza in einer Wühlkiste kramte, bewusst nach einem Buch suchte, das fünf Jahre später, mit einem Vorwort von Nobelpreisträger Patrick Modiano versehen, als eine der wichtigsten literarischen Entdeckungen der Saison gefeiert werden sollte.
Nun ist genau dieser nicht sehr wahrscheinliche Zufall eingetreten, der natürlich keiner ist. Vielmehr konnte durch den Flohmarktfund ein Versäumnis nachgeholt werden, das wohl dem Erscheinungsdatum der Erstausgabe zuzuschreiben ist: 1945, als Françoise Frenkel „Rien où poser sa tête“ erstmals in einem Schweizer Verlag veröffentlichte, war die darin erzählte Geschichte für das Publikum noch allzu frisch, für viele zu schmerzhaft, für viele andere zu unangenehm, um auf große Resonanz zu stoßen.
Heute liest man sie mit angehaltenem Atem und hat Mühe, das Buch zwischendurch wieder aus der Hand zu legen. „Nichts, um sein Haupt zu betten“ ist kein Roman, sondern ein Stück Autobiografie der Autorin, das sie sich in den Jahren 1943 und 1944 von der Seele geschrieben hat. Mit knapper Not war Françoise Frenkel, eine aus Berlin nach Frankreich geflohene polnische Jüdin, den Nazi-Häschern und ihren französischen Helfershelfern über die Schweizer Grenze entkommen, ehe sie sich an die Niederschrift des Erlebten machte.
Die Geschichte beginnt in Stefan Zweigs untergegangener Welt von gestern, im grenzenlosen Europa des 19. Jahrhunderts, das wir uns heute nicht mehr vorstellen können. Die Erzählerin wächst im polnischen Łódź auf, geht zum Literaturstudium nach Paris, wo sie auch eine Lehre als Buchhändlerin absolviert. Eher zufällig wird ihr auf einem Zwischenstopp in Berlin bewusst, dass es in der deutschen Hauptstadt so gut wie keine französische Literatur zu kaufen gibt – wir schreiben das Jahr 1921 –, und sie gründet ohne langes Zögern die einzige französische Buchhandlung im Berlin der Zwischenkriegszeit. Ihr Laden wird binnen Kurzem zum Intellektuellentreffpunkt, doch schon bald vollzieht sich vor ihren Augen die „rasante Verwandlung der deutschen Kinder in erregte Larven der Hitlerjugend“. Immer drohender werden die Besuche der Blockwartin, von den Novemberpogromen 1938 bleibt sie nur verschont, weil sie Ausländerin ist. Kurz vor dem Überfall auf Polen flieht sie nach Paris, von dort nach dem Zusammenbruch Frankreichs weiter nach Avignon, Vichy, Nizza, Annecy und schließlich in die rettende Schweiz.
Die Buchhändlerin aus Leidenschaft erweist sich als souveräne Erzählerin: Frenkel schildert sowohl die Nazifizierung Berlins als auch die gespaltene und ratlose französische Gesellschaft nach dem Debakel von 1940 scharfsichtig und differenziert, mit sicherem Sinn für das bedeutungsvolle Detail. Sie schreibt die Dialoge demoralisierter französischer Soldaten nieder, zeigt Indifferenz, Hass und warmherzige Hilfsbereitschaft derjenigen, die nicht fliehen müssen, und macht anhand ihrer Erlebnisse den Ermessensspielraum der Beamten deutlich, die über eine mögliche Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung und somit über Leben oder Deportation derjenigen entscheiden, die vor ihnen in der Schlange stehen.
Vor allem versteht es die Autorin, durch viele kleine Porträts ein berührendes Bild der bunt zusammengewürfelten Gesellschaft der Geflohenen aus ganz Europa zu zeichnen, die zwischen 1940 und 1944 in Südfrankreich in einer sich langsam schließenden Falle sitzen. In den Hotels, in denen sie zunächst noch wohnen kann, trifft sie Industrielle, Geschäftsleute, Schauspieler, Schriftsteller, Ärzte, Anwälte, Professoren aus von den Nazis besetzten oder bedrohten Ländern. Eine Wiener Schriftstellerin namens Elsa von Radendorf wird zu Frenkels Freundin. Sie belauscht den kurzen Dialog eines weiteren geflohenen Wiener Ehepaares in einem Casino: „Mein armer Freund, was hat dich gepackt, dir hat es doch immer gegraut vor dem Spielen?“ „Ich spiele, um zu vergessen; vor meinen Gedanken graut es mir noch viel mehr als vor dem Spielen.“
Frenkels Bericht ist ein Dokument der zunehmenden Verzweiflung: Zunächst erscheint das „freie“ Südfrankreich noch als vermeintlich sicherer Hafen, doch die bald einsetzende antisemitische Berichterstattung macht den Festsitzenden klar, was ihnen bevorsteht: „Die Flüchtlinge kannten seit 1933 diese ganze Propaganda deutschen Ursprungs und sahen die Bedrohung heraufziehen.“ Als im Jahr 1942 die Razzien im Vichy-Frankreich beginnen, kommentiert Frenkel trocken: „Der Totentanz konnte beginnen.“
Oft nur im letzten Augenblick und dank der beherzten Hilfe mutiger Menschen entgeht Frenkel dem Zugriff der mit den Nazis kollaborierenden Gendarmerie. Sie schildert erschütternde Szenen, die sich bei Razzien abspielen, wird selbst, als eines ihrer Verstecke entdeckt wird, Opfer von Verrat und Erpressung, landet nach einem gescheiterten Fluchtversuch im Gefängnis und schafft es schließlich beim dritten Versuch, die rettende Schweizer Grenze zu überqueren. Der Soldat, der sie ertappt, schießt in die Luft.
Muss man im Jahr 2016 die Aktualität eines Buches über Vertreibung und Flucht erwähnen? „Man weiß nicht, was aus Françoise Frenkel nach dem Erscheinen von ,Nichts, um sein Haupt zu betten‘ geworden ist“, schreibt Patrick Modiano. „So bleibt ihr Buch für mich auf immer der Brief einer Unbekannten, postlagernd, seit einer Ewigkeit vergessen und jetzt zugestellt, scheinbar irrtümlich, vielleicht aber war er doch für einen bestimmt.“
Georg Renöckl in FALTER 41/2016 vom 14.10.2016 (S. 21)