Für Ö1 (Kontext) besprochen – Alexander Spritzendorfers Buch über den Bürgermeister des Roten Wien.
„Wenn wir einmal nicht mehr reden können, dann werden diese Steine für uns sprechen“, lautet ein berühmter Satz von Karl Seitz. Er fiel bei der Eröffnung des Karl-Marx-Hofes am 12. Oktober 1930, gilt aber genauso gut für die Gesamtbilanz der Ära Seitz, die von seiner Wahl 1923 bis zu seiner Verhaftung im Zuge der Februarkämpfe von 1934 andauerte. Sechzigtausend Gemeindewohnungen in 348 Wohnhausanlagen, das modernste Stadion und das größte Hallenbad des Kontinents wurden unter Seitz errichtet, das Schulwesen reformiert, kostenlose Ganztagskindergärten eingeführt, die Infrastruktur der Metropole von Grund auf erneuert. Von den Austrofaschisten wurde er 1934 gewaltsam aus dem Rathaus gezerrt. Als er 1938 bei seiner Verhaftung durch einen SS-Mann gefragt wird, ob er der ehemalige Oberbürgermeister Dr. Karl Seitz sei, antwortet er:
In den paar Worten, die Sie da geredet haben, sind nicht weniger als drei grobe Fehler. Erstens bin ich kein Doktor, sondern ein ganz gewöhnlicher Volksschullehrer, zweitens bin und war ich kein Oberbürgermeister. So etwas gibt es in Deutschland. Hier in Wien haben wir es nur zu einem Bürgermeister gebracht, und der bin ich. Und drittens, Ihr allergrößter Fehler: Ich bin kein ehemaliger, sondern ich bin der legal gewählte Bürgermeister von Wien, und einen anderen gibt es nicht.
In diesen wenigen Sätzen steckt viel von dem, was die Faszination ausmacht, die Karl Seitz auf seine Zeitgenossen ausübte: Ein klares Bekenntnis zu seiner bescheidenen Herkunft, unerschütterliches Eintreten für die Demokratie, ein hohes Maß an Zivilcourage sowie die Gabe, aus dem Stegreif pointierte Reden zu halten. Denn so „gewöhnlich“, wie er es selbst behauptet, ist am Werdegang von Karl Seitz nur wenig. Seine nach dem Tod des Vaters in wirtschaftliche Not geratene Mutter musste ihren 11-jährigen Sohn einem städtischen Waisenhaus übergeben. Dort erlebte Karl militärische Disziplin und religiöse Indoktrinierung, wurde aber auch von Lehrern unterrichtet, die seine intellektuelle Begabung erkannten und ihm die Chance auf weitere Bildung eröffneten. Als Jahrgangsbester darf der frischgebackene Absolvent des Lehrerseminars, der gegen das ausdrückliche Verbot der Seminarleitung auf der Toilette heimlich Goethe las, schließlich eine Rede halten. Es kommt zum Skandal:
Sympathisch, fanden die Zuhörer, als der junge Redner sich im Namen der Mitschüler und der Absolventen des letzten Jahrganges bei den Lehrern und der Direktion bedankte. Doch als der Dank zu Ende war und sich die Hände schon zum freundlichen Beifall erhoben, sprach der Mann am Pult weiter: „Und wenn es den reaktionären Mächten je gelingen sollte, das Reichsvolksschulgesetz, das man mit Recht eine Perle der österreichischen Gesetzgebung nennt, abzuschaffen, dann werden sie unter der jüngeren Lehrerschaft einem Widerstand begegnen, so fest, so einig und so treu, wie man sich das in Österreich gar nicht vorstellen kann.“
Wer derart gefährliche Reden hält, darf nicht unterrichten, befindet die Seminarleitung und nimmt ihm das Abschlusszeugnis wieder weg. Nach einigem Hin und Her wird Seitz dennoch zum leidenschaftlichen Lehrer, aber auch zum Sozialdemokraten der ersten Stunde. Vom einzigen sozialdemokratischen Abgeordneten im niederösterreichischen Landtag im Jahr 1902 bringt er es 1919 als Präsident der Konstituierenden Nationalversammlung zum ersten Staatsoberhaupt der Republik. Mit der Feststellung, diese habe weder Würden noch Ehrungen zu vergeben, sondern nur Arbeiten zu verteilen, beginnt Seitz seine Amtszeit.
In die Zeit der Präsidentschaft von Karl Seitz fallen die Abschaffung der Todesstrafe, das Verbot des Adels, die Unterzeichnung des Staatsvertrages von St. Germain-en-Laye am 26. Oktober 1919, die Änderung des Staatsnamens in „Republik Österreich“, die Zuteilung des Burgenlands zu Österreich und die Volksabstimmung vom 10. Oktober 1920 in Kärnten. Als Staatspräsident gehörte Karl Seitz, zusammen mit Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal, 1920 dem Gründungskomitee der Salzburger Festspielhausgemeinde an […].
Der Name Karl Seitz wird jedoch meist nicht mit den mühseligen Anfängen der Republik, sondern mit der glanzvollen Epoche des Roten Wien verbunden. Noch heute prägt die Ära Seitz die Stadt. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass diese Epoche in Alexander Spritzendorfers Biographie nur ein vergleichsweise kurzes, recht allgemein gehaltenes Kapitel einnimmt. Der Autor versucht vielmehr, ein Panorama der dramatischen Jahrzehnte zu zeichnen, in die Karl Seitz‘ politisches Wirken fällt, von der Gründung der Sozialdemokratie bis zu den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Das gelingt nicht immer überzeugend. Eine Flut von Zitaten, deren Quellen erst im Anhang genannt werden, zwingt zu ständigem Hin- und Herblättern. Die Gliederung nach Themen bringt verwirrende Zeitsprünge mit sich. Zahlreiche Exkurse machen es schwer, den sprichwörtlichen roten Faden nicht zu verlieren.
Die Faszination für den Bürgermeister des Roten Wien, die Alexander Spritzendorfer die Feder führt, bleibt dabei dennoch spürbar. Sie macht Lust auf die weitere Beschäftigung mit dem Ausnahmepolitiker, den Vizebürgermeister Karl Honay zum 80. Geburstag mit den Worten würdigte:
Seine hinreißende Rede, sein echtes Wienertum, sein nie versiegender Humor und seine erstaunliche Arbeitskraft halfen ihm schon in kurzer Zeit, die Herzen der Wiener zu erobern. Er war der Repräsentant der ganzen Stadt, geachtet auch bei seinen politischen Gegnern, die sich vor seiner Persönlichkeit beugen mussten.