Rezension aus FALTER 41/2015
Kadaver auf Heimaturlaub
In seinem Roman „Adieu Paris“ blickt Daniel Anselme in die zerstörten Seelen der französischen Soldaten im Algerienkrieg
Der Heimaturlaub des Frontsoldaten ist spätestens seit „Im Westen nichts Neues“ (1926) ein vorprogrammiertes Desaster: Durch seine traumatischen Erfahrungen ist der Soldat seinem alten Selbst, seiner Familie und seinen Freunden entfremdet. Über das Erlebte zu sprechen ist unmöglich, Enttäuschung auf beiden Seiten unvermeidbar. „Ich hätte nie auf Urlaub fahren dürfen“, muss sich Remarques Erzähler schließlich eingestehen.
Eine ähnliche Erfahrung machen drei junge Franzosen in Daniel Anselmes 1957 erschienenem Roman „La permission“, der nun in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Adieu Paris“ vorliegt. Drei französische Soldaten, die in Algerien ihren Militärdienst ableisten, verbringen die Weihnachtsfeiertage des Jahres 1956 zu Hause. Der Krieg selbst kommt nur in kurzen Erinnerungsfetzen zur Sprache: brennende Dörfer, weinende Frauen und Kinder, ein sterbender Algerier, den man mit dem Fuß auf den Rücken wälzt.
Mehr ist auch gar nicht notwendig: Hier geht es nicht um den Verlauf oder einzelne Aspekte des seit zwei Jahren tobenden algerischen Unabhängigkeitskriegs, dessen schlimmste Phase noch bevorstand, als das Buch geschrieben wurde. „Adieu Paris“ zeigt ausschließlich, was der Krieg im Inneren derjenigen anrichtet, die ihn führen müssen.
Es ist ein eindringliches Porträt dreier Angehöriger einer verlorenen Generation, das Daniel Anselme in diesem kurzen, dichten Roman zeichnet. Kaum an der Gare de Lyon aus dem Zug gestiegen, schlägt die kindliche Vorfreude der Fronturlauber in ein Gefühl der Verunsicherung um. In ihrem Leben hat sich alles, in Paris hingegen rein gar nichts verändert – bis auf den feinen Unterschied, dass sie nicht mehr dazugehören.
Paris ist Paris ist Paris, in seiner ganzen unfassbaren Schönheit, kühlen Eleganz und unbändigen Lust am Fortschritt. Die 250.000 Soldaten, zum großen Teil Wehrpflichtige, die in Algerien gerade in einen immer noch grausameren Strudel der Gewalt hineingerissen werden? Interessieren hier nicht wirklich.
Wie Besucher aus dem Jenseits besichtigen die drei Soldaten die Schauplätze ihres alten, bedeutungslos gewordenen Lebens: Ihre Träume, ihre Werte, ihre Schwärmereien, kurz: ihre Jugend – derart empfindliches Gut geht auf dem Schlachtfeld als Erstes kaputt.
„Der Junge, den sie früher einmal geliebt hat (vermutlich geliebt hat), ist tot, mausetot!“, erklärt sich Lachaume, mit 26 der älteste der drei Fronturlauber, warum ihn seine frisch angetraute Ehefrau während seiner Abwesenheit verlassen hat.
Als „Kadaver auf Urlaub“ verhöhnte einst Goebbels die Künstler und Intellektuellen, die sich ins Exil retten konnten – hier passt das drastische Bild problematischer Herkunft plötzlich ganz genau. Am lebendigsten wirken die drei noch, wenn die Verzweiflung sie überkommt. „Warum lasst ihr uns gehen?“, lautet die teils gebrüllte, teils geschluchzte Frage, auf die sie doch nur betretenes Schweigen als Antwort bekommen.
Der Roman endet, wo er begonnen hat: im Zug. Hunderte Soldaten schreien bei der Abreise zurück an die Front „Nieder mit dem Krieg!“, doch die Militärtransporte fahren wohlweislich mitten in der Nacht, sodass niemand sie sehen oder hören kann.
Oder besser: fast niemand. Denn einen dieser Züge beobachtete der zum Kaffeehausintellektuellen mutierte Résistance-Kämpfer Daniel Anselme, eigentlich Daniel Rabinovitch, bei einer nächtlichen Wanderung durch Paris.
Der gespenstische Anblick inspirierte ihn zum Roman, Erfolg hatte er damit keinen. Anselmes tiefer, trostlos hellsichtiger Blick in die Seelen zehntausender junger Franzosen gefiel weder den Rechten, was kaum verwundert, noch den Linken, deren harmlose Protestaktionen gegen den Krieg der Autor mit beißender Ironie schildert. „La permission“ wurde trotz seiner drängenden Aktualität kaum wahrgenommen und sehr schnell vergessen.
Anselme starb 1989. 24 Jahre nach seinem Tod wurde „La permission“ ins Englische übersetzt und findet seither international die Resonanz, die dieses Buch längst verdient hat. In Frankreich harrt es noch seiner Wiederentdeckung.
Georg Renöckl in FALTER 41/2015 vom 09.10.2015 (S. 12)