Auf derstandard.at: Warum die Schule zu früh beginnt
Warum die Schule für viele zu früh beginnt
Manchmal genügt es, zwei schulpflichtige Kinder zu haben, um die Sache mit den Chronotypen zu begreifen: Während der eine auch an Wochenenden jeden Morgen noch vor sieben Uhr fröhlich aus dem Bett hüpft, wacht die andere erst auf, nachdem man sie aus dem Bett getragen und schlafend im Badezimmer auf den Boden gesetzt hat. Für sie wie für viele andere Kinder beginnt die Schule einfach zu früh: um Punkt acht, wie in Österreich eben üblich. Es darf sogar noch früher sein: In Österreich sind Beginnzeiten ab sieben Uhr gesetzlich erlaubt. Das wird auch weiterhin so bleiben: „Derzeit sind keine Änderungen geplant“, heißt es aus dem Bildungsministerium. Müssen Kinder, die nun in den ersten Tagen nach den Sommerferien nicht so recht aus den Federn kommen, also einfach früher schlafen gehen?
Von Lerchen und Eulen
So einfach ist das nicht, sagen Mediziner wie Reinhold Kerbl, Vizepräsident der österreichischen Gesellschaft für Schlafmedizin und Vorstand der Kinder- und Jugendabteilung des Landeskrankenhauses Hochsteiermark: „Welcher Chronotyp jemand ist, beruht auf genetischer Veranlagung.“ Man kommt also als nachtaktive „Eule“ oder als frühaufstehende „Lerche“ zur Welt – und hat eben Glück oder Pech mit dem frühen Schulbeginn. Neben der individuellen Veranlagung spielt auch das Alter der Kinder eine Rolle: Bei Pubertierenden verschiebt sich der Schlafrhythmus generell in Richtung „Eule“. So sind es vor allem Jugendliche, die zu wenig schlafen: Sie müssen zwar früh aufstehen, können aber abends nicht früh genug einschlafen, um auf ihr eigentlich benötigtes Schlafpensum von acht bis zehn Stunden zu kommen. Das Ergebnis: ein „sozialer Jetlag“, wie der Fachbegriff für den Zustand der dauermüde durchs Leben schlurfenden Teenager lautet. Mit teils dramatischen Auswirkungen nicht nur auf die schulischen Leistungen, sondern auch auf die Gesundheit: Chronischer Schlafmangel kann nachweislich zu Wachstumsstörungen, Fettleibigkeit und Depressionen führen.
Experte rät zu späterem Beginn
„Ich war früher selbst skeptisch, was den späteren Schulbeginn betrifft“, sagt Schlafexperte Kerbl. „Es gibt aber zahlreiche und sehr eindeutige seriöse Studien, die belegen, dass ein späterer Unterrichtsbeginn für etwa 70 Prozent der Jugendlichen positive Auswirkungen hätte.“ Eine beeindruckende Zahl. Wenn beinahe drei Viertel der Jugendlichen mehr und besser lernen könnten und überdies gesünder wären, würde die Schule ein wenig später beginnen – warum setzt man das nicht um? Die Gründe sind vor allem pragmatischer Natur: Arbeitswelt und Schule sind aufeinander abgestimmt, viele Eltern beginnen selbst um acht Uhr zu arbeiten. Dazu kommt, dass Unterricht in Österreich nach wie vor meist vormittags stattfindet: Wenn bis zum Mittagessen fünf bis sechs Unterrichtsstunden durchgezogen werden müssen, geht sich ein späterer Schulbeginn einfach nicht aus. Derzeit kommt jedoch manches in Bewegung, der Ausbau der Ganztagsschule zählt zu den wichtigsten Vorhaben von Neo-Bildungsministerin Sonja Hammerschmid. Unterricht, Freizeit und Hausaufgaben sollen dann so über den Tag verteilt werden, wie es am sinnvollsten ist. Über die Beginnzeit eines solchen Schultages wird dabei allerdings kaum gesprochen. Dabei könnten Schulen diese schon jetzt autonom verschieben.
Zweiklassengesellschaft
Reinhold Kerbl versteht nicht, warum zumindest größere Schulen nicht beides anbieten: Bei vier Jahrgangsklassen zum Beispiel zwei Klassen für Eulen und zwei für Lerchen. „Es wäre doch interessant, dann die Leistungen zu vergleichen“, meint der Wissenschafter. „Auch für die Eulen unter den Lehrern wäre das gut.“ Ermutigt werden Direktorinnen und Direktoren derzeit jedenfalls nicht, solche Modelle auszuprobieren. Weder das Ministerium noch Behörden wie der Wiener Stadtschulrat wollen „eine Diskussion anreißen“. Die frühere Stadtschulratspräsidentin Susanne Brandsteidl nannte das Thema ein reines „Bobo-Thema“, ihr Vorgänger Kurt Scholz sieht die Schule bei späterem Unterrichtsbeginn gar zum „Spielball einer Spaßgesellschaft“ verkommen.
Die Mär von der Faulheit
Die Verteidiger des Status quo dürften eine landläufige Gleichung verinnerlicht haben, die Frühaufstehen mit Fleiß und Ausschlafen mit Faulheit in Verbindung bringt. Schlafmediziner Kerbl glaubt dagegen nicht, dass es immer objektiv notwendig ist, dass die Arbeit der Eltern früh beginnt: „In vielen Berufen gibt es diesen Zwang gar nicht. Man könnte – wie in Westeuropa üblich – genauso gut um neun beginnen. Doch da gilt man bei uns schon als faul.“
Und als faul angesehen werden – das will man hierzulande auf gar keinen Fall. In Deutschland ist das nicht anders, dennoch lassen sich einzelne Schulleiter dort vom Vorurteil nicht irritieren. So hat etwa das reformpädagogische Dalton-Gymnasium Alsdorf in Nordrhein-Westfalen im vergangenen Schuljahr ein Gleitzeitmodell für Oberstufenschüler eingeführt. Die Entscheidung über den Unterrichtsbeginn – acht oder neun Uhr – liegt bei den Jugendlichen.
Selbstverantwortung motiviert
Mit einer „Spaßgesellschaft“ hat das nichts zu tun: Viele Schüler besuchen freiwillig mehr von den angebotenen Freiarbeitsstunden als verlangt. „Bei uns sind die Schüler viel stärker für sich selbst verantwortlich“, sagt Schulleiter Wilfried Bock. „Das motiviert sie.“ Auch am Wiedner Gymnasium in Wien, das den Hochbegabtenzweig „Sir-Karl-Popper-Schule“ beherbergt, gibt es Überlegungen in diese Richtung. „Im Rahmen der offenen Arbeitsformen gibt es in einzelnen Bereichen der Oberstufe die Möglichkeit der Gleitzeit“, erklärt Direktor Edwin Scheiber. Er weist aber auch darauf hin, dass Maßnahmen, die die Unterrichtszeit nach hinten verschieben, von Schülern und Lehrern bisher abgelehnt wurden. „Wir hoffen, dass uns einmal eine flexible Lösung einfällt, sind da aber erst am Beginn.“
Eine pragmatische Lösung hat das Gymnasium Marienthal in Hamburg gefunden: Dort läutet die Glocke nicht mehr um acht Uhr morgens, sondern eine halbe Stunde später. Pausen wurden gekürzt, sodass der Schultag dennoch nicht zu lange dauert. Derzeit wird das System evaluiert, doch für Direktorin Christiane von Schachtmeyer bräuchte es das gar nicht. Ihr genügt der morgendliche Blick in die Gesichter ihrer Schülerinnen und Schüler: „Wie gut der Biorhythmus mit dem späteren Termin zurechtkommt, sieht man sofort.“ (Georg Renöckl, 15.9.2016) –