Ein Grossmutter-Mutter-Tochter-Roman der französischen Journalistin Judith Perrignon
öck. ⋅ Mila, Helena und Angèle halten sich stets kerzengerade. Mila hat sich diese Haltung als Tänzerin in Pariser Kabaretts antrainiert und sie dann ihrer Tochter Helena beigebracht, derentwegen sie die leicht anrüchige Karriere in der Nachkriegszeit beendete. Später übernimmt Mila auch die Erziehung ihrer Enkelin – Angèle ist im Gefängnis zur Welt gekommen. Die lebenslustige, hübsche, zarte Helena sitzt dort wegen bewaffneten Raubüberfalls.
«Fixiere einen Punkt, lass ihn nicht mehr los, und du wirst nicht fallen», lautet Milas wichtigste Tänzerinnen-Weisheit, die sich auf alle möglichen Lebenslagen anwenden lässt. Entsprechend oft wird sie wiederholt, sie prangt auch gross auf dem Buchumschlag. Wem solche Zaunpfähle auf die Nerven gehen, der wird Schwierigkeiten haben, in den Roman hineinzufinden. Noch dazu, wo auch die Handlung auf den ersten Blick auf eher vordergründige Effekte ausgelegt scheint: Helena sitzt unschuldig im Gefängnis. Sie opfert sich für ihre grosse Liebe, den wahren Täter. Da der Kindsvater sie aber nicht nur im Gefängnis, sondern überhaupt sitzenlässt, zerbricht sie. Auch nach der Entlassung kann sie keine Beziehung zur Tochter aufbauen, die nach unglücklicher Kindheit an der Seite der gefühllos gewordenen Helena mit antikem Spielzeug handelt. Erst nach Helenas frühem Tod macht sich Angèle auf die Suche nach dem Vater.
Das Erstaunliche an diesem Roman: Was anfangs Kitsch befürchten lässt, liest sich dann doch ganz anders. Die Autorin Judith Perrignon war sechzehn Jahre lang Politik-Redaktorin bei der französischen Tageszeitung «Libération» und wurde einem breiteren Publikum als Co-Autorin von «La nuit du Fouquet’s» bekannt, einem scharfsichtigen satirischen Theaterstück über Nicolas Sarkozys Wahlsiegfeier im Nobelrestaurant. Auch ihr Debütroman «Kümmernisse» zeugt vom gesellschaftspolitischen Engagement der Autorin. Es bildet die Folie für die sich im Roman kreuzenden Lebensgeschichten und offenbart einen genauen Blick auf patriarchale Familienstrukturen, den täglichen Kampf von Alleinerzieherinnen, demütigende Rituale der Justiz oder den Mai 1968, in dem Helena ihre Haftstrafe antreten muss. Vor allem aber versteht es Perrignon, ihren Figuren in den Briefen und inneren Monologen, aus denen der Roman zusammengesetzt ist, glaubwürdige Persönlichkeiten mit einer jeweils eigenen Sprache zu verleihen. Ihre Schicksale berühren, der Roman gleitet aber nicht ins Klischierte. Dem einen oder anderen Kritikpunkt zum Trotz stellt sich Judith Perrignon hier als starke, risikofreudige Erzählerin vor. «Tänzerinnen-Weisheiten» hat sie nicht nötig.