Gezieltes Stolpern im Katastrophengebiet

Hier ein NZZ-Porträt des Autors und Reporters Martin Pollack, erschienen anlässlich seines neuesten Buches „Kontaminierte Landschaften“. Ein sehr nachdenklich stimmendes Buch eines beeindruckenden Autors.

Martin Pollacks osteuropäische Recherchen

Gezieltes Stolpern im Katastrophengebiet

Georg Renöckl Donnerstag, 3. Juli 2014, 05:30
Der Österreicher Martin Pollack ist hierzulande einer der federführenden Autoren, wenn es um ostmitteleuropäische historische Verhältnisse geht. Sein Schreiben ist ein beharrlicher Kampf gegen das Vergessen der Opfer des mörderischen 20. Jahrhunderts. «Kontaminierte Landschaften» heisst sein jüngstes Buch.

Ein Grab ist für Martin Pollack nie das Ende einer Geschichte. Im Gegenteil: Gräber stehen auffallend oft am Anfang der Recherchen des österreichischen Autors und Übersetzers. Mitunter beginnen diese vor der eigenen Haustür: Im südburgenländischen Bocksdorf, wo er einen Bauernhof bewohnt, osteuropäische Salatsorten züchtet und biozertifizierten Apfelsaft herstellt, stiess Pollack beim Spazierengehen einmal auf den als «Kriegsgrab» markierten Grabstein zweier junger Polen, die beide Stanisław hiessen. «Warum wurden die Stanisławs erschossen?», fragt sich der Autor nach ersten Erkundungen, die in eine Reportage münden. Sie gibt einem 2008 erschienenen Sammelband den Namen, die Frage im Titel kann sie aber nicht beantworten – Jahrzehnte des Verschweigens, Verdrängens und Vergessens machen die späte Suche nach der Wahrheit oft aussichtslos. Sinnlos aber keineswegs: Die von Pollack zusammengetragenen Hinweise fügen sich zu einem komplexen Bild des Lebens zweier Zwangsarbeiter in einem Bauerndorf, mit all seinen inneren Widersprüchen. Erschossen wurden die beiden Polen schliesslich von Rotarmisten. Der Schluss liegt nahe, dass sie sich nach ihrer Befreiung zu solidarisch mit ihren vormaligen Bocksdorfer «Arbeitgebern» gezeigt hatten.

Überwucherte Gräber

Das Stellen von unangenehmen Fragen, das Vermitteln zwischen den einander oft fremd gebliebenen Kulturen östlich und westlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs sowie das beharrliche Suchen nach den Schicksalen hinter blossen Zahlen, überwucherten Gräbern oder anonymen Gedenkstätten kennzeichnen das Lebenswerk des mittlerweile 70-jährigen Martin Pollack. Er widmete es dem Gebiet, das der auch in Wien lehrende amerikanische Historiker Timothy Snyder «Bloodlands» nennt. Aus Protest gegen das stramm deutschnationale Eltern- und Grosselternhaus studierte Pollack als junger Mann Slawistik und osteuropäische Geschichte, forschte mehrere Jahre als Historiker und Journalist in Polen, übersetzte unter anderem das Gesamtwerk Ryszard Kapuścińskis.

Nach einer Laufbahn als freier Journalist, Redaktor und Korrespondent gab er 1998 seinen Posten beim «Spiegel» auf, um endlich genug Zeit zum Schreiben zu haben. Seine Bücher widmet er immer wieder dem k. u. k. Armenhaus Galizien, der Ukraine mit ihren exotisch klingenden Volksgruppen wie Bojken oder Huzulen, vor allem aber der Zeitgeschichte und den Verbrechen des 20. Jahrhunderts, deren Spuren heute immer schwerer lesbar werden. Bücher wie «Anklage Vatermord» (2002), die Rekonstruktion eines Tiroler Justizskandals vor antisemitischem Hintergrund, oder «Kaiser von Amerika» (2010), das die Auswanderung Zehntausender Galizier aus dem kaiserlich-königlichen Elend in die Neue Welt um 1900 nachzeichnet, zeugen von Martin Pollacks Fähigkeit, die Ergebnisse akribischer Recherchen zu fesselnden Erzählungen zu verdichten.

In seinem neuen Buch, dem Essay «Kontaminierte Landschaften», benennt Pollack einen der zentralen Beweggründe seines Schreibens: «Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass der Schrecken in nackten Ziffern nicht fassbar ist. Wichtiger als Zahlen sind die Namen der Opfer, weil wir nur auf diese Weise einzelne Schicksale erzählen können, eine unabdingbare Voraussetzung, um (. . .) den Überlebenden und Nachkommen ihre Geschichte zu überliefern.» In diesem Buch geht es nicht um Gräber, sondern um deren Fehlen: Mit dem Begriff «kontaminiert» bezeichnet der Autor Landschaften, in denen Massenmorde verübt und danach vertuscht wurden. «Lästige Zeugen werden beseitigt, die Gruben, in die man die Toten geworfen hat, werden zugeschüttet, eingeebnet, in vielen Fällen wieder begrünt, sorgfältig mit Büschen und Bäumen bepflanzt, um die Massengräber verschwinden zu lassen.»

Solche Landschaften finden sich überall in Mittel- und Osteuropa, vom slowenischen Karst, in dessen Höhlen die siegreichen jugoslawischen Partisanen die Leichen Zehntausender als Nazikollaborateure erschossener Slowenen und Kroaten entsorgten, über Österreich bis nach Weissrussland, wo heute nichts an Hunderttausende Zivilisten erinnert, die in den Wäldern um Minsk ermordet wurden. Martin Pollack, der bei vielen seiner früheren Recherchen immer wieder auf stumme Zeugen von Genozid und Vertreibung stiess, erweist sich als kundiger Reiseführer durch Gebiete, in denen es historisches Detailwissen, die Hilfe von Zeitzeugen und einen geschulten Blick braucht, um die Hinweise auf das vielfache Töten nicht zu übersehen. Vermeintlich unschuldige Landschaften, die schöne blaue Donau oder idyllische Gebirgslandschaften der Karpaten sind oft nichts anderes als gut getarnte Gräber. Über die Vergangenheit ist sprichwörtlich Gras gewachsen, ganz im Sinne der Täter, die nicht nur die Menschen, sondern auch die Erinnerung an sie vernichten wollten. Mit diesem «Ausdruck der tiefen Verachtung für die Opfer, die auf diese Weise noch über den Tod hinaus erniedrigt werden» will sich Pollack nicht abfinden.

Zwei Fragen ziehen sich wie Leitmotive durch seinen Essay. Die eine spricht der Autor selbst aus, sie lautet: «Hat diese Landschaft etwas zu verbergen?» Im eigenen Garten hat Pollack beim Umgraben eine Gabel mit der SS-Rune gefunden. Was würde er beim Weitergraben an einer anderen Stelle finden? «Stosse ich dann auf Knochen, auf verrosteten Stacheldraht, auf Telefondraht, mit dem Hände zusammengebunden wurden, auf Geschosshülsen, auf zerfallene Reste von Schuhen und Kleidern? Oder sind das nur Albträume, Produkte einer überspannten Fantasie?»

Die andere zentrale Frage stellt ein alter Ukrainer: «Wie sollen wir leben mit all den Toten auf unseren Wiesen und Feldern?» Gerade die heute wieder umkämpfte Ukraine war Schauplatz vieler der grössten Verbrechen des 20. Jahrhunderts und ist im Pollackschen Sinn «kontaminiert» wie kaum ein anderes Land. Wie soll man heute damit umgehen, dass unter so vielen Feldern und Gemüsegärten womöglich Tote liegen? Pollack insistiert: «Wir müssen alles tun, um die unbekannten Opfer der Massengräber in den kontaminierten Landschaften dem Vergessen zu entreissen und ihnen ihre Namen und Gesichter und ihre Geschichte wiederzugeben.» Ihm schwebt eine Landkarte dieser Gebiete vor, mit Rekonstruktionen der zerstörten Dörfer deportierter oder ausgerotteter Minderheiten, in die es ihn immer wieder zieht.

Nach der Wahrheit suchen

Keineswegs beschränkt sich Pollack dabei auf die Position des aussenstehenden Beobachters: In all seinen Büchern steckt der Mensch, der sich auf die Suche nach der Geschichte hinter einem anonymen Grab oder den Resten eines überwucherten Dorfes macht, mit im Text. «Transparency is the new objectivity» mag in Journalistenkreisen als neuester Trend gelten, Pollack lebt und schreibt seit Jahrzehnten nicht anders: Die eigene Familiengeschichte, die Gedanken und Zweifel, die dem nach der Wahrheit Suchenden durch den Kopf gehen, die Punkte, an denen die Recherche ins Stocken gerät, die Fragen, die am Ende offenbleiben – die Subjektivität des Erzählers wird nie vernebelt. Am schonungslosesten ging Pollack mit der eigenen Geschichte im Buch «Der Tote im Bunker» (2004) um, einer Spurensuche nach seinem 1947 am Brenner erschossenen Vater, die zur Reise in eine dunkle Familiengeschichte wird: Der Vater entstammt einer Dynastie von «Sprachgrenzdeutschen» im steirisch-slowenischen Grenzgebiet, die ihre Verachtung alles Slawischen von Generation zu Generation weitergibt. Sie gipfelt in dessen Karriere als hoher Gestapo-Beamter und SS-Sturmbannführer. Mit der ihm eigenen Beharrlichkeit stellt sich Pollack auch dieser Geschichte und trägt Dokumente zusammen, die über die Tätigkeit seines Vaters Aufschluss geben, der unter anderem Einsatzgruppenleiter an der Ostfront war.

Erst nach Veröffentlichung des Buches wurde Pollack auf Dokumente aufmerksam gemacht, die die direkte Beteiligung des Vaters an der Niederschlagung des Warschauer Aufstands beweisen. «Ich hätte auch ohne dieses Wissen auskommen können», kommentiert er die unablässige Recherchearbeit hart an der persönlichen Schmerzgrenze, die ihm gleichzeitig auch zu Optimismus Anlass gibt: 21 Jahre nach den Verbrechen seines Vaters führte ihn sein erster längerer Auslandsaufenthalt ausgerechnet nach Warschau. Er verheimlichte dort seine Familiengeschichte nicht – und wurde auch nicht angefeindet. Noch heute versetzt es ihn in Erstaunen, «dass Europa zu so etwas imstande ist». «Bei uns hat man keine Fragen gestellt, das war das Problem», schreibt Martin Pollack über das Aufwachsen in seiner «Obernazi-Familie», wie er sie nennt. Einen radikaleren Gegenentwurf dazu als sein Schreiben kann man sich nicht vorstellen.

Martin Pollack: Kontaminierte Landschaften. Residenz-Verlag, Wien 2014. 120 S., Fr. 25.30.

 

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