für die NZZ besucht: IWM und IFK, zwei geisteswissenschaftliche Wiener Vorzeige-Institutionen:
Zu den manchmal mehr, manchmal weniger liebenswürdigen Schrullen Österreichs zählen Doppelgleisigkeiten in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens, die selbst den politischen Erdbeben und dem gesellschaftlichen Klimawandel der jüngsten Zeit fürs Erste trotzen. Egal, ob Autofahrerverein oder Rettungsorganisation, Alpinistenklub oder Institut für Wirtschaftsforschung: Es gibt stets mindestens zwei davon, als Erinnerung an die Aufteilung des Landes in Einflusssphären der zwei ehemaligen Grossparteien, selbst wenn der politische Hintergedanke oft längst verblasst ist. Den gelernten Österreicher erstaunt das so wenig wie irgendein anderes Naturgesetz; Autoren wie Wolf Haas finden dadurch Stoff für abgründig komische Romane, alle sind zufrieden.
Im Optimalfall schadet es ja nicht, von etwas Gutem gleich zwei Exemplare zu haben. Etwa zwei weit über die engen Landesgrenzen hinaus wahrgenommene geistes- bzw. kulturwissenschaftliche Institutionen wie das 1982 gegründete Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) sowie das zehn Jahre später ins Leben gerufene Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK).
Das eine wie das andere ist ein Wissenschaftskolleg bzw. institute of advanced study, das aufstrebenden und etablierten Forschern im Bereich der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften die Möglichkeit bietet, sich für mehrere Monate abseits des oft aufreibenden Universitätsalltags intensiv ihrem Forschungsthema zu widmen. Beide legen Wert auf Interdisziplinarität und ein anregendes, generationenübergreifendes intellektuelles Umfeld, beide verweisen auf die grossen Namen und die erfolgreichen akademischen Lebensläufe, die mit einem Forschungsaufenthalt in der Donaumetropole verknüpft sind. Und beide haben seit relativ kurzer Zeit eine neue Leitung: Der Kulturwissenschafter Thomas Macho steht seit vergangenem März dem IFK vor, die indisch-amerikanische Sozialanthropologin Shalini Randeria seit etwas über einem Jahr dem IWM.
Bei allen Gemeinsamkeiten zeigen sich grosse Unterschiede zwischen den beiden Instituten, was ihre Geschichte, die jeweilige inhaltliche Ausrichtung und Zukunftspläne angeht. Das IWM wurde von polnischen, deutschen und ungarischen Wissenschaftern mit dem Ziel gegründet, die geistige Teilung des Kontinents zu überwinden. Auch wenn sich Forschungsschwerpunkte der veränderten politischen Landkarte anpassten, bedeutet die Berufung Shalini Randerias an die Institutsspitze einen radikalen Wandel. «Ein Standbein bleibt die Ausrichtung auf die Region, die unsere traditionelle Stärke war. Dieses Thema ist auch keinesfalls erledigt – denken Sie an die Brisanz des Auseinanderdriftens Ost- und Westeuropas, das wir gerade erleben», erklärt dazu die Weltbürgerin Randeria, die in Oxford studierte und Professuren in Berlin, Zürich, Budapest, München, Wien, Paris und Genf innehatte. Sie ergänzt: «Das Institut wurde zu einem Zeitpunkt gegründet, als die Augen der Welt auf Ostmitteleuropa gerichtet waren. Jetzt ist es aber auch an der Zeit, dass diese Region ihren Blick erweitert, um die aussereuropäische Welt wahrzunehmen. Dieser Perspektivenwechsel ist wichtig, wenn die Region nicht im Provinzialismus versinken soll.»
Zu bestehenden Forschungsschwerpunkten gesellt sich also eine neue, globalere Perspektive: Die Beziehungen etwa zwischen Russland und der Türkei oder der Ukraine rücken ins Blickfeld, ein weiterer Schwerpunkt liegt auf internationalem Recht. Damit steht auch Randerias eigene Forschung, die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen der Verrechtlichung, in engem Zusammenhang: Die Macht verschiebe sich derzeit weg von der Legislative – auf nationaler Ebene in Richtung nicht gewählter Verwaltungsorgane wie Zentralbanken, international zu Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds. Was etwa Griechenland derzeit erlebe, kenne sie schon lange durch ihre Forschungsarbeit über den globalen Süden, so Randeria.
Eine Folge dieser Entwicklung sei Entpolitisierung: «Wozu sollen Bürger noch wählen, wenn sie kaum mehr Einfluss auf die Politik nehmen können?» Die Krise der Demokratie, die Zunahme von illiberalen Demokratien und Populismen, die Privatisierung von Gemeingut, von öffentlichen urbanen Räumen bis zum Wasser, oder auch die Kommerzialisierung unserer Daten – das alles sei in Indien oder Brasilien nicht weniger relevant als in Deutschland oder Polen.
Neben neuen inhaltlichen Akzenten setzt die neue Rektorin auf Bewährtes: Das im Wiener intellektuellen Leben sehr präsente Institut veranstaltet nicht nur öffentlich zugängliche wissenschaftliche Kolloquien, sondern auch politische Salons und Matineen im Burgtheater – zu einer Veranstaltung im letzten Februar kamen etwa achthundert Besucher. Auf einer bekannten Wiener Kabarettbühne wird der politische Witz im Zentrum des – auch – wissenschaftlichen Interesses stehen, und dem Spiritus Loci folgend, findet auch schon einmal ein IWM-Ausflug zum Heurigen statt, bei dem Gäste intellektuelles «Speed-Dating» betreiben und sich einen Fellow zum Gespräch bei einem Glas Wein «ausborgen» können. Im September wird gar der Karlsplatz zu einem geisteswissenschaftlichen Forum, wenn das Institut zusammen mit dem Wien-Museum das Vienna Humanities Festival ausrichtet.
Forschung und Öffentlichkeit
Was Veranstaltungen wie diese nicht nur der Stadt, sondern auch dem Institut bringen: Für Randeria ist es zentral, dass sich junge Wissenschafter nicht im akademischen Elfenbeinturm verbarrikadieren. «Wichtig ist mir, dass bei uns Debatten stattfinden, die Kontrapunkte zur öffentlichen Diskussion setzen.» Das Gespräch mit der Öffentlichkeit, das Präsentieren und Diskutieren eigener und fremder Themen sei stets auch eine Übersetzungsleistung. Übersetzung ist der vielsprachigen Sozialwissenschafterin nicht nur im Sinne des Austauschs zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit wichtig, sondern auch im konkreten Wortsinn: «Wir sind ein mehrsprachiges Institut.» Jährlich beherbergt das Institut etwa sechzig Wissenschafter, Übersetzer und Journalisten aus aller Welt als Fellows für unterschiedliche Zeiträume.
Was für das eher «klassisch» wissenschaftliche IWM einen interessanten Vergleichswert darstellt, wäre für Wiens zweites institute of advanced study unter Umständen auch inhaltlich ein Thema: Das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften arbeitet mit einem breit gefassten Kulturbegriff im Sinne der Cultural Studies und verfolgt damit einen grundsätzlich anderen Forschungsansatz. Das um zehn Jahre jüngere Institut wurde mit dem Ziel gegründet, auch Bereiche wie Medien, Alltagskultur oder Mentalitätsgeschichte abzudecken, und wurde schnell zu einem Fixpunkt in der europäischen Forschungslandschaft. Die Unterschiede zum IWM macht der Blick auf bisherige Schwerpunktthemen sichtbar: «Das kollektive Gedächtnis», «Metropolen im Wandel», «Kulturen des Blicks» oder «Imaginationen der Unordnung».
Turbulente Geschichte
Seit 2015 heisst das in Wien beheimatete IFK offiziell «Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften an der Kunstuniversität Linz». Der komplizierte Name verweist auf die turbulente jüngere Geschichte des Instituts: Vor fünf Jahren drohte ihm unversehens und unverschuldet das Aus. Eine von vielen als Kahlschlag bezeichnete Strukturreform unter der damaligen Wissenschaftsministerin Beatrix Karl entzog ausseruniversitären Forschungseinrichtungen die lebensnotwendige Basisfinanzierung. Während das IWM dank internationalen Verträgen, die nicht einseitig gekündigt werden konnten, glimpflich davonkam, dockte das IFK an die zur Universität aufgestiegene Kunsthochschule Linz an. Seit gut einem Jahr ist die Fusion realisiert.
Für den derzeit zusätzlich noch an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrenden Kulturphilosophen Thomas Macho, der im März die Leitung des IFK übernommen hat, ist die neue Konstellation ein klarer Gewinn für beide Seiten: Die Linzer Kunstuniversität verfüge nun über ein internationales Aushängeschild, von dem auch die Studierenden profitierten, andererseits bleibe die Unabhängigkeit des Forschungszentrums gewahrt. Es gebe nun aber eine belastbare Brücke zu den Universitäten, eine bessere Vernetzung und Synergieeffekte seien die Folge.
Die Forschungsthemen des neuen Direktors markieren eine faszinierende thematische Bandbreite wissenschaftlicher Betätigungsfelder: Arbeiten zu Trauer und Tod, Schuld und Schulden, Folter, Schönheit oder auch zur Kulturgeschichte des Schweins finden sich auf Machos Publikationsliste. Als IFK-Fellow forschte er selbst im Jahr 2001 zur Geschichte des Weihnachtsfestes – das abschliessende Buch ist nach einer Reihe kleinerer Publikationen zwar noch nicht erschienen, aber im Entstehen begriffen. Mut, die Stelle des Direktors zu übernehmen, habe ihm die Arbeit an dem Thema «Schuld und Schulden» gemacht, erzählt Macho, wobei er sich weniger auf den Inhalt als vielmehr auf die Form einer entsprechenden Tagung in Berlin bezieht: «Das war wie ein ökumenischer Kongress.» Ökonomen, Psychologen, Ethnologen, Kunststudenten und Kulturwissenschafter erarbeiteten neue Formate, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Für den neuen IFK-Direktor, der auch auf die bereits funktionierende Zusammenarbeit mit Institutionen wie dem Wien-Museum baut, eine inspirierende Erfahrung: «Wir dürfen nicht nur für Wissenschafter verständlich sein.»
«Übersetzung»
Der erste neue Forschungsschwerpunkt des IFK unter Thomas Machos Leitung wird das Thema «Übersetzung» sein, naturgemäss legt man die Angelegenheit «breit» an. Die Palette reicht von Otto Neuraths volksbildnerischem ISOTYPE-Projekt, in dem in den zwanziger und dreissiger Jahren Piktogramme als Bausteine einer Universalsprache entwickelt wurden («ISOTYPE» steht für: International System of Typographic Picture Education), über die Problematik der Selbstübersetzung bei literarischen Autoren oder die therapeutische Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen bei Anwesenheit eines Dolmetschers bis zum Umgang mit der elektronischen Datenverarbeitung. Zu Letztgenanntem erläutert Macho: «Die Wissenschafter arbeiten alle mit dem gleichen Medium, aber mit sehr verschiedenen Zugängen. Mediziner, Chemiker, Naturwissenschafter, Geisteswissenschafter, Kulturwissenschafter, aber auch Künstler sitzen an Computern, aber noch wissen wir zu wenig, wie sie mit den Ansprüchen und Risiken der Digitalisierung umgehen, mit Tabellen, Diagrammen, Statistiken, Bildern, Texten. Die vergleichende Untersuchung digitaler Stile wäre ein sehr spannendes Thema.»
Sechsundzwanzig bis dreissig Fellows verbringen im Lauf eines akademischen Jahres Zeit am IFK, und auch Macho betont die Rolle seines Instituts als Ort, der es Wissenschaftern erlaube, mit Kollegen aus anderen Disziplinen, aber gemeinsamer thematischer Klammer frei von den Verpflichtungen des universitären Alltags zu arbeiten: Die Zeit am IFK empfänden viele als «geschenkte Zeit» – ein selten gewordenes Gut im heutigen Wissenschaftsbetrieb. Eine weitere Parallele zum IWM wird im Lauf des Gesprächs offenbar: Auch das IFK wird sich in den nächsten Jahren verstärkt mit dem «Global South» auseinandersetzen; mehr Fellows aus Lateinamerika oder afrikanischen Ländern anzusprechen, ist dezidiertes Ziel des neuen IFK-Direktors.
Ein geweiteter Horizont und viel frischer Südwind – der Neustart von IWM und IFK unter Shalini Randeria und Thomas Macho verspricht spannende Zeiten für Wiens Geistesleben, und das gewissermassen doppelt. Mit wienerischem Understatement ausgedrückt: Soll uns nichts Schlimmeres passieren.