Voilà – der bisher letzte Toussaint in der NZZ-Besprechung, bin gerade wieder über dieses Buch gestolpert. Demnächst noch mehr über den Autor.
Feuer, Wasser, Sturm!
In seinem dritten „Marie“-Roman domestiziert Jean-Philippe Toussaint die Naturgewalten und beschreibt Herrenschuhe.
Georg Renöckl ⋅ Um eine zum Anlass passende Naturkatastrophe ist Jean-Philippe Toussaint nie verlegen: Da bebt die Erde, wenn eine Beziehung in die Brüche geht, galoppiert ein verstörter Vollbluthengst in die stürmische Nacht hinaus, wenn die Frau mit einem anderen abhaut, bricht ein reinigendes Gewitter los, wenn der Nebenbuhler stirbt, brennt eine halbe Insel ab, wenn es zwischen den Ex-Partnern dann doch wieder funkt.
Ein Fall von symbolischer Überfrachtung? Aber ja, und bei weitem nicht der einzige Verstoss gegen die Regeln des guten Geschmacks, die sich der belgische Autor genehmigt. Er baut auch gern Krimi-Elemente in seine Romane ein, Fläschchen mit Salzsäure, geldgefüllte Briefumschläge oder rasante Verfolgungsjagden, lässt die Rätsel oder Erwartungen, die er damit auslöst, dann aber einfach so stehen. Wer sich von einem Toussaint-Roman Respekt vor Erzählkonventionen erwartet, hat Pech gehabt. Eine Foto des Autors auf dem Umschlag seines neuen Romans «Die Wahrheit über Marie» zeigt nicht umsonst einen jugendlich wirkenden Fifty-something, der sich die Hand vor den Mund hält, um nicht laut loszuprusten.
Zu wissen um den Spieltrieb des ehemaligen Scrabble-Jugendweltmeisters Jean-Philippe Toussaint, ist jedenfalls nicht der schlechteste Weg zum Verständnis seiner Romane. Er wurde in den achtziger Jahren von Alain Robbe-Grillet entdeckt und ist vom Nouveau Roman geprägt, ohne Epigone der einstigen Avantgarde zu sein. Auf Dinge wie Spannungsbögen, klassische Figurenzeichnung und Psychologie legt er jedenfalls weniger Wert als auf die präzise Beschreibung von Räumen, Bewegungen oder Gegenständen. Wie reizvoll eine solche Erzählweise sein kann, beweist Toussaint in seinem neuen Roman unter anderem mit der eingehenden Betrachtung eines Paars Schuhe. Diese fallen dem in stürmischer Nacht herbeigerufenen Ich-Erzähler neben dem Bett seiner ehemaligen Geliebten auf, als einzige in der Wohnung verbliebene Erinnerung an den Nebenbuhler. Der wird gerade mit dem Notarztwagen abtransportiert. Man erfährt auf diese Weise erstaunlich viel über den unglücklichen Schuhbesitzer, der seinen Herzinfarkt nicht überleben wird.
«Die Wahrheit über Marie» ist nach «Sich lieben» (2003) und «Fliehen» (2007) der dritte Band über das langwierige Scheitern der Beziehung zwischen einem ungenannten Ich-Erzähler und der erfolgreichen Modeschöpferin Marie. Der Roman lässt sich auf mehreren Ebenen lesen. Auf den ersten Blick beschreibt er in einer etwas disparaten Aneinanderreihung unterschiedlicher Szenen die Erlebnisse Maries unmittelbar nach ihrer Trennung vom Erzähler (die bereits in «Sich lieben» stattgefunden hat) und die neuerliche Annäherung des Paares auf Elba über ein Jahr später. Sehr viel mehr muss man von der Handlung nicht wissen. Auf den zweiten Blick stellt sich die Szenenfolge als wesentlich durchkomponierter heraus. Der Roman besteht aus drei Teilen, die durch zahlreiche Motive miteinander verbunden sind und in deren Mittelpunkt jeweils eine angekündigte Katastrophe steht. Es ist keineswegs notwendig, die ersten zwei Bände gelesen zu haben, um diesen zu verstehen, doch fällt auf, wie sehr die drei Romane aufeinander verweisen, und sei es nur durch ähnliche Formulierungen, etwa bei der Beschreibung des Sichübergebens – eines Vorgangs, der in den Marie-Romanen häufig und minuziös protokolliert wird. Selbst ein Pferd, über dessen Artgenossen Toussaint weiss, «es ist ihnen rein physisch unmöglich, zu kotzen, ihr Organismus erlaubt es ihnen nicht, selbst wenn ihnen speiübel ist», übergibt sich und wird so zum «Verräter seiner Spezies».
Damit sind wir bei der dritten Ebene, auf der sich der Roman lesen lässt. Es handelt sich dabei auch um eine Erzählpoetik, in der Toussaint den Erzähler immer wieder aus der Schule plaudern lässt, etwa über das «unerbittliche Licht der Worte», das so manches ursprünglich plausible Geschehen absurd erscheinen lässt, oder die «intimsten Bande», die den Erzähler mit seinen Figuren verknüpfen, da «jede der auftauchenden Personen immer nur eine Emanation von einem selbst ist, neu erschaffen durch das Prisma unserer Subjektivität, geprägt von unserer Sensibilität, unserer Intelligenz und unseren Phantasien». Da darf einem verstörten Pferd schon einmal das Futter hochkommen, wenn dem Erzähler danach ist.
Macht der Leser mit, so funktioniert Toussaints genau durchdachtes Spiel auch dann, wenn man keine Lust auf angestrengtes Suchen nach eventuellen Parallelen, Verweisen und sonstigen strukturalistischen Mätzchen hat. Der Autor versteht es, mit langen, kunstvoll gedrechselten Sätzen Szenen von eindrücklicher Schönheit entstehen zu lassen. Die nächtliche Flucht eines Rennpferds von der Verladerampe eines Frachtflugzeugs etwa ist ein memorables Prosa-Kabinettstück.
Vielleicht ist es ja ihre Konzentriertheit, welche die «Marie»-Romane gleichzeitig nur in kleinen Dosen verträglich macht. Toussaint neigt dazu, seine Satzkaskaden effektvoll-abrupt abzubrechen, doch sorgen die vielen Knalleffekte am Ende der Abschnitte im Lauf der Lektüre auch für ein geistiges Peitschenschlagsyndrom. Der «rote Faden» aus Menstruationsblut etwa, den der Erzähler mit seiner Fingerspitze durch die Stadt zu ziehen meint, mag zwar ein netter Witz eines Autors sein, der für sonstige rote Fäden wenig übrig hat, wirkt als Schlusspointe eines Absatzes aber wie ein etwas pubertärer Provokationsversuch.
Offen bleibt, ob «Die Wahrheit über Marie» der letzte Teil einer Trilogie ist oder ob noch weitere Fortsetzungen folgen. Das Ende wirkt alles andere als definitiv, dennoch scheint das Spiel der Trennungen und Wiedervereinigungen des Paares langsam ausgereizt. Wobei: Überschwemmung hatten wir noch keine.