Für die Ö1-Sachbuchsendung Kontext besprochen: Vera Weidenbachs Buch darüber, „wie Frauen die moderne Welt erschufen – und warum wir sie nicht kennen.“
Im 19. Jahrhundert begann sich die Welt immer schneller zu drehen. Die Wissenschaften machten eine Entdeckung nach der anderen, die industrielle Revolution nahm an Fahrt auf, die Künste beschritten neue Wege. Traditionelle Werte, Menschenbilder und Imperien bekamen Risse, die Moderne hatte begonnen. Sie brachte bahnbrechende Erfindungen, zwei Weltkriege und letztendlich auch die Kultur hervor, in der wir heute zuhause sind. Deren Geschichte kennen wir dennoch nicht genau genug, ist die deutsche Journalistin Vera Weidenbach überzeugt. Nach gängiger Lesart sind es nämlich fast ausschließlich Männer, die unsere Epoche hervorgebracht haben. In ihrem Buch „Die unerzählte Geschichte. Wie Frauen die moderne Welt erschufen – und warum wir sie nicht kennen“ macht sich Weidenbach auf die Suche nach dem Beitrag der Frauen an der Moderne. Denn diese haben zwar Maßgebliches in den Wissenschaften und Künsten geleistet, wurden aber von ihren männlichen Konkurrenten und später auch von der Geschichtsschreibung beiseitegeschoben.
In ihrem 1929 erschienenen Essay „Ein Zimmer für sich allein“ fragt sich Virginia Woolf, warum Frauen im viktorianischen Zeitalter keine Meisterwerke geschaffen haben. Die Antwort meint sie in der fehlenden Chancengleichheit zu finden. Die 1990 geborene freie Journalistin Vera Weidenbach hingegen findet bereits die Frage falsch gestellt. Denn von Frauen geschaffene Meisterwerke seien auch damals ja zahlreich vorhanden gewesen. Man habe sie nur nicht als solche angesehen.
Die schwerwiegendste Folge davon, dass es so wenige Schriftstellerinnen (unter ihrem richtigen Namen) gemäß männlicher Maßstäbe nach ganz oben schaffen, ist, dass anderen Frauen die Vorbilder fehlen. Auch das macht strukturelle Unterdrückung so erfolgreich. Weil es kein offizielles Verbot gibt, fragt sich jede Frau, die schreiben will, von Neuem: „Wenn Frauen können, warum haben sie dann nicht?“ Das Problem ist also weniger, dass es keine anderen großartigen Schriftstellerinnen gibt, sondern, dass es so schwierig ist, sie zu finden, weil wir oft ihre Namen nicht kennen.
Ein Beispiel für die Konsequenzen, die das Fehlen weiblicher Vorbilder hatte, ist die US-amerikanische Dichterin Emily Dickinson. Nur ihre Schwester und ihre Freunde wussten überhaupt, dass sie schrieb. Nach ihrem Tod fand man in ihrem Zimmer selbst gebundene Hefte mit 1800 Gedichten. Heute ist sie „eine der wichtigsten Lyriker der USA“, schreibt Vera Weidenbach. Das generische Maskulinum ist kein Lapsus, sondern ein Denkanstoß: Würde man Dickinson eine der wichtigsten „Lyrikerinnen“ nennen, fände sie sich in der Schublade mit der Aufschrift „Frauenliteratur“ wieder, die Vera Weidenbach auf keinen Fall öffnen möchte. In Wissenschaft und Kunst macht sich Weidenbach auf die Suche nach weiteren bewusst übersehenen Frauen. Ada Lovelace erfand lang vor der Erfindung des Computers das Programmieren, die französisch-peruanische Sozialistin Flora Tristan formulierte Jahre vor Marx und Engels wesentliche Gedanken des Kommunistischen Manifests. Die Amerikanerin Nellie Bly erfand den investigativen, ihre Kollegin Ida Wells den heute so wichtigen Daten-Journalismus – vor über hundert Jahren. Dennoch geht es Weidenbach nicht um eine bloße Auflistung weiblicher Pionierinnen:
Wenn Frauen erinnert werden, dann nicht wirklich für ihre Leistungen, sondern dafür, dass sie eine Frau waren. Sie erhalten den Titel, die Ersten ihrer Art zu sein, die ersten Professorinnen, Richterinnen oder Ministerinnen. […] Dadurch trennen wir die Geschichte in eine Männer- und Frauengeschichte. Frauen bekommen eine eigene Kategorie, weil sie unterdrückt wurden und es deshalb leider unmöglich war, dass sie so Großes schaffen konnten wie Männer. Aber diese Kategorie wird ebenfalls ein Werkzeug der Unterdrückung, denn sie verschweigt, dass Frauen immer Leistungen auf dem gleichen Niveau erbrachten wie Männer, obwohl sie unterdrückt wurden.
So wird der Anteil der Bildhauerin Camille Claudel am Werk ihres langjährigen Geliebten Auguste Rodin genauso häufig ignoriert wie die Co-Autorschaft Margarete Steffins an einigen der bedeutendsten Theaterstücke Bert Brechts. Rosalind Franklin erforschte die DNA, Marthe Gautier fand die Ursache für das Down-Syndrom, doch jeweils waren es ihre Konkurrenten, die dafür ausgezeichnet wurden. Die Astronomin Jocelyn Bell beobachtete pulsierende Sterne, ihr Professor Antony Hewish bekam dafür den Nobelpreis. Weidenbach beschreibt die Pressekonferenz nach der Publikation eines aufsehenerregenden Artikels über die Pulsare:
„Können Sie bitte kurz erklären, was die Entdeckung des Pulsars für die Astrophysik bedeutet?“, fragt der Journalist Antony Hewish, der es ihm bereitwillig erklärt. Jocelyn Bell Burnell steht daneben und nickt. Das hätte sie natürlich auch erklären können, nach all den Stunden am Teleskop. Der Journalist dreht sich zu ihr, schlägt eine Seite im Notizblock um und fragt: „Wie groß sind Sie?“
„Wie groß ich bin?“
„Ja, Ihre Körpergröße. Und Ihren Hüftumfang, können Sie mir den auch gleich verraten?“
Für das Foto wird sie später gebeten, noch ein paar Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen.
Natürlich gab es Ausnahmen, die sich gegen männliche Konkurrenten durchsetzten, wie die Physikerin Lise Meitner, die Rock’n’Roll-Pionierin Rosetta Tharpe und einige andere, die trotz ihrer Bekanntheit in Weidenbachs alternativer Geschichte Platz finden. Denn auch ihnen blieb die Kanonisierung letztendlich oft verwehrt.
Aber es ist dieser Kanon, es sind Nobelpreise und Anerkennungen, an denen die Öffentlichkeit, die Medien und nicht zuletzt die Regierungen Relevanz und Verdienste messen. Am Ende scheinen nur noch diese Bewertungen und Rankings zu zählen. Daraus werden Straßennamen, Gedenktage und Lehrpläne von Gymnasien und Universitäten.
Dass unser Kanon dringend hinterfragt und ergänzt werden muss, macht Vera Weidenbach in ihrem Buch über die Frauen der Moderne einmal mehr deutlich. Vieles bleibt auf dessen gut 340 Seiten freilich nach wie vor unerzählt, etwa die Geschichten zentraler weiblicher Figuren der Wiener Moderne von Rosa Mayreder bis Margarete Schütte-Lihotzky. Die Autorin hat diese Kritik bereits vorausgesehen: Man möge ihr verärgerte Leserbriefe schreiben, wenn man wichtige Namen vermisse, sie freue sich darauf.