Jean Pierre-Abrahams Tagebuch eines Leuchtturmwärters auf Deutsch
Georg Renöckl ⋅ Mitten im Atlantik, 30 Kilometer vor dem westlichsten Zipfel der Bretagne, steht ein steinerner Turm namens «Ar-Men», was auf Bretonisch «Fels» bedeutet. Er ist der exponierteste Leuchtturm Frankreichs, ein Meister- und Husarenstück der maritimen Baukunst des 19. Jahrhunderts. Gerade einmal 105 Quadratmeter misst die Oberfläche des häufig überfluteten Felsens, auf dem der Leuchtturm ab 1867 unter gefährlichsten Bedingungen errichtet wurde. Seit seiner Einweihung im August 1881 ist er ununterbrochen in Betrieb.
In der Hölle
Der einsam aus dem Ozean ragende Turm fasziniert wohl jeden, der ihn von einem Schiff aus erblickt. Der Gedanke, in einem solchen Verliess auf hoher See eingeschlossen zu sein, ist beklemmend; nicht umsonst heissen auf Inseln gelegene Leuchttürme im französischen Fachjargon «Enfer», also «Hölle». Ar-Men gilt als deren innerster Kreis und trägt den Ehrentitel «L’Enfer des enfers».
Eher paradiesisch dürfte der Turm hingegen auf den angehenden Schriftsteller Jean-Pierre Abraham gewirkt haben, als dieser in den 1950er Jahren seinen Militärdienst auf einem Kriegsschiff leistete: Nach dem ersten Sichtkontakt mit dem Turm bewarb er sich um eine Stelle als Wärter und verbrachte von 1959 bis 1964 den Grossteil seiner Zeit auf dem «Felsen». 1967 erschien sein Buch «Armen», das ihn in Frankreich berühmt machte und nun unter dem Titel «Der Leuchtturm» erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt.
Der schmale Band enthält tagebuchartige Notizen des Leuchtturmwärters von November bis Mai, das Jahr wird nicht genannt. Sie beschreiben einen langen, im Grunde ereignislosen Winter auf Ar-Men, abgesehen von einigen heftigen Stürmen sowie gefährlichen Momenten bei der Ablöse der Zweierteams. Die Wahrnehmung des Erzählers dominieren widersprüchliche Gefühle. Nach Jahren der inneren Unruhe und Sinnsuche hat er im streng reglementierten Leben im Leuchtturm eine gewisse Geborgenheit gefunden. Gleichzeitig weiss er, dass sich dieser Lebensabschnitt seinem Ende zuneigt: Die allgegenwärtige Brandung, die er einst so genoss, ist ihm unerträglich geworden. Dazu kommt die Angst vor dem hereinbrechenden Winter mit seinen Stürmen und langen Nächten. Die Stimmung des Buches ist unheilschwanger, selbst die Ruhe ist bedrohlich: «Die wahre Angst kommt auf, wenn die See allzu ruhig ist. Man hat dann den Eindruck, abzudriften.»
Wenn der Kampf gegen die Elemente nicht gerade alle Sinne und Kräfte fordert – einmal drückt der Sturm sogar die Tür ein, das Wasser schiesst im Turm nach oben –, halst sich der Erzähler stets neue Instandhaltungsarbeiten im Leuchtturm auf, der am Ende des Winters innen und aussen in neuem Glanz erstrahlen wird. Nicht zufällig blättert der junge Leuchtturmwärter zwischendurch häufig in einem Buch über die Zisterzienser, deren von Ritualen geprägte Lebensweise ihn anzieht. Beim weihnachtlichen Polieren von Messingteilen notiert er: «Ich habe bei dieser Arbeit den Eindruck, ganz intensiv zu leben.»
Viele der Beobachtungen und Reflexionen des Leuchtturmwärters, der immer wieder mit den Wörtern hadert und um den passenden Stil ringt, haben weit über die begrenzte Welt des Atlantik-Eilands Gültigkeit, viele würden als Aphorismen durchgehen: «Zu einem gewissen Moment erhellen die Lampen nicht nur nichts, sondern trüben selbst das restliche Tageslicht», oder, im Anschluss an eine Beschreibung alter bretonischer Seebären: «Ich wähnte sie voller Klugheit und Erinnerungen. Jetzt weiss ich, dass sie bar jedes Gedankens sind. Die See ist durch ihre Augen eingedrungen, hat ihre Köpfe langsam leergeschwemmt.»
Nostalgischer Beiklang
Jean-Pierre Abrahams atmosphärisch dichter, bei aller äusseren Ereignisarmut ungemein spannungsgeladener Bericht aus dem winterlichen Atlantik hat über vierzig Jahre nach der Erstveröffentlichung nichts von seiner Strahlkraft verloren, wozu auch die stimmig-sperrige deutsche Übersetzung von beiträgt. Ein nostalgischer Schimmer mischt sich heute ins Leseerlebnis: Am 10. April 1990 fand die letzte Ablöse der Wärter von Ar-Men statt. Der Leuchtturm funktioniert seither automatisch, für allfällige Wartungsarbeiten werden Techniker per Helikopter eingeflogen.