Erinnerung eines Mädchens

Meine Ö1-Rezension zu Annie Ernaux‘ autobiographischer Erzählung Erinnerung eines Mädchens: 

 

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Rezension auf Ö1/Ex libris – das Bücherradio vom 9. 12. 2018

Es ist nicht unbedingt ein Kinderspiel, sich an traumatische Momente in der eigenen Biographie zu erinnern. Dennoch vergleicht die französische Autorin Annie Ernaux die Arbeit an ihrem jüngsten autobiographischen Buch Erinnerung eines Mädchens mit einem solchen Spiel, „Ochs am Berg“ heißt es: Ein Kind steht an einem Ende des Spielfelds und kehrt der Gruppe am anderen Ende den Rücken zu. Während es laut den Spruch „Ochs am Berg“ aufsagt, laufen die übrigen in seine Richtung. Dreht sich das Kind danach blitzschnell um, müssen alle wie versteinert in ihrer Position stehenbleiben. Wer sich bewegt, geht zurück an den Start.

Ähnlich wie bei diesem Spiel geht es Annie Ernaux, wenn sie ihre Erlebnisse im Sommer des Jahres 1958 Revue passieren lässt, als sie achtzehn wurde und erste sexuelle Erfahrungen machte. In ihrem Gedächtnis sind die Ereignisse von damals in Form unbewegter Bilder gespeichert, anhand derer sie die Chronologie dieses einschneidenden Sommers rekonstruiert. Auch ihr früheres Ich sieht sie dabei als Bild, als „dieses Mädchen auf dem Foto“. Konsequent schreibt sie ihre autobiographische Erzählung daher in der dritten Person. „Das Mädchen auf dem Foto bin nicht ich, aber sie ist auch keine Fiktion“, heißt es zu Beginn des Textes. „Wenn die Realität das ist, was wirkt, was Wirkungen erzeugt, wie es im Wörterbuch heißt, dann ist dieses Mädchen zwar nicht ich, aber sie ist in mir real.“

Ernaux bezeichnet sich als Ethnologin ihrer selbst und ist in Frankreich für ihren nüchternen, soziologischen Blick auf die eigene Biographie bekannt, der stets auch die sozialen Hintergründe ihres Handelns mitbedenkt. So geht es auch in ihrem jüngsten Buch nicht oder nicht nur um ein persönliches Trauma, sondern vielmehr darum, das „Verhalten dieses Mädchens, Annie D, zu erfassen und zu verstehen, ihr Glück und ihr Leid in die Regeln und Vorstellungen der Fünfzigerjahre einzuordnen, in eine Normalität, die für alle selbstverständlich war“.

Annie Ernaux erzählt die Geschichte eines überbehüteten Mädchens, das kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag zum ersten Mal einen Sommer ohne seine Eltern verbringt. Sie arbeitet als Kinderbetreuerin in einer Ferienkolonie und verliebt sich sofort in einen der anderen Betreuer, der sie bei ihrer ersten Party nach einem Tanz und einem Kuss gleich mit aufs Zimmer nimmt. Dort ist sie ihm sprichwörtlich wehrlos ausgeliefert, und das aus zwei Gründen: Zum einen kann sie auf keinerlei Erfahrungen im Umgang mit dem anderen Geschlecht zurückgreifen, zum anderen wird sie von ihrem eigenen, bis dahin noch nie erlebten Begehren überrumpelt. Eine Nacht lang dient sie dem Mann als willenloses Sexspielzeug, auch wenn sie rein physiologisch Jungfrau bleibt. Die Idee, sich seinen Wünschen zu verwehren, kommt ihr nicht. „Seit er sie zum Tanzen aufgefordert hat, hat sie alles getan, was er von ihr verlangt hat. Zwischen dem, was ihr passiert, und dem, was sie tut, gibt es keinen Unterschied“, schreibt die Erzählerin. „Sie unterwirft sich nicht ihm, sondern einem universellen Gesetz, dem Gesetz der wilden Männlichkeit, dem sie früher oder später begegnen musste. Und wenn dieses Gesetz brutal und dreckig ist, dann ist das eben so.“ Brutal und dreckig ist nicht nur der Missbrauch, sondern sind auch seine Folgen: Ihr vermeintlicher Geliebter will bereits am nächsten Tag nichts mehr von ihr wissen und demütigt Annie vor der Clique, zu der sie gehören will. Verstört lässt sie daraufhin alles mit sich geschehen und gilt von nun an als Freiwild. Minutiös schildert Annie Ernaux die wiederholten Erniedrigungen durch die Gruppe, aber auch die tiefe innere Veränderung einer jungen Frau, die die Ferienkolonie „in der unerschrockenen Gewissheit ihrer Intelligenz, ihrer Stärke“ betreten hat. „Ihr Verlangen nach ihm, danach, dass er ihren Körper beherrscht, entfremdet sie von jedem Gefühl der Würde“, schreibt sie nun. Nach der ersten Erschütterung steckt sie die Zurückweisung durch den Angebeteten scheinbar stoisch weg, genauso wie die vielen Gemeinheiten durch ihre vermeintlichen neuen Freunde, für die sie doch nur eine „kleine Nutte“ ist. Berauscht von der neuen Freiheit ist sie wild entschlossen, diese so gründlich wie möglich auszukosten.

Doch Missbrauch und Mobbing haben Spätfolgen, von denen der zweite Teil des Buches handelt. Im Herbst geht Annie an ein Lycée, um Lehrerin zu werden. Dort bekommt sie zum einen die unsichtbaren Grenzen zu spüren, an die sie in der Gesellschaft aufgrund ihrer kleinbürgerlichen Herkunft unweigerlich stößt, lernt aber vor allem durch den Philosophieunterricht auch, ihr eigenes Verhalten moralisch zu bewerten und sich dafür zu schämen. „Diese Scham ist anders als die Scham, die Tochter von kleinen Ladenbesitzern zu sein. Jetzt schämt sie sich dafür, ein Objekt der Begierde und stolz darauf gewesen zu sein. Dafür, dass sie geglaubt hat, sich in der Kolonie Freiheit erkämpft zu haben. […] Für das Gelächter und die Verachtung der anderen. Es ist eine weibliche Scham.“ Annie erkrankt an Bulimie. Auch von diesem Leidensweg und der schwierigen Rückverwandlung der „kleinen Nutte“ in eine selbstbewusste Frau erzählt Annie Ernaux in ihrem Buch.

„Erinnerung eines Mädchens“ ist ein beklemmendes Protokoll von sexuellem Missbrauch und ein scharfsinniger Bericht über die auf vielen Ebenen wirksame Unterdrückung durch Scham, der eine junge Frau in den Jahren vor 1968 ausgesetzt war. Nicht zuletzt ist dieses Buch, dessen Autorin immer wieder auf die Schwierigkeiten des Erinnerns und des Schreibens eingeht, aber auch ein eindrucksvoller Text über die Kraft des Erzählens:

„Aber wozu schreibt man, wenn nicht dazu, Dinge hervorzuholen, und sei es nur ein einziges Ding, das sich allen psychologischen und soziologischen Erklärungsversuchen widersetzt, das sich weder aus einer vorgefassten Meinung noch aus einer Schlussfolgerung ergibt, sondern aus der Erzählung, etwas, das aus den aufgeschlagenen Falten der Erzählung zum Vorschein kommt und helfen kann zu verstehen – und zu ertragen –, was passiert und was man tut.“

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