Im Netzwerk der Städte
„Smart“ sind Metropolen vor allem dann, wenn sie sich untereinander vernetzen. Wien steht dabei noch am Anfang. Warum eigentlich?
BERICHT: GEORG RENÖCKL; ILLUSTRATION: OLIVER HOFMANN | POLITIK | aus FALTER 50/17 vom 13.12.2017
Was jetzt kommt, ist nichts für Zartbesaitete: „Weitere Antworten anzeigen, inklusive solcher, die beleidigende Inhalte enthalten können“, formuliert Twitter etwas holprig. Wer Diskussionen über die Äußerungen der Politikerin nachlesen will, ist gewarnt: Drückt man den Button, folgen Flegeleien und Deportationsfantasien. Dass eine Frau, noch dazu mit Migrationshintergrund, Autofahrern Platz in der Stadt wegnimmt, lässt bei vielen offenbar alle Sicherungen durchbrennen. Die Rede ist von der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo.
Sie machte die Schnellstraße am Seine-Ufer, auf der man gerade noch mit 70 Sachen durchs Pariser Zentrum brettern konnte, zur Fußgängerzone und verbietet Autos mit einem Baujahr vor 1997 überhaupt die Einfahrt in die Stadt. Sieben der größten Pariser Plätze, heute noch gigantische Kreisverkehre, werden fußgänger-und radlerfreundlich umgestaltet, Radwegnetz und Leihradsystem werden massiv ausgeweitet. Der Gegenwind, den die als Spanierin geborene Pariser Politikerin dabei zu spüren bekommt, erinnert an den Hass, der in Wien Maria Vassilakou entgegenschlägt.
Die seit 2014 amtierende sozialistische Bürgermeisterin setzt in Paris Maßnahmen um, die auch aus dem rot-grünen Wiener Regierungsübereinkommen von 2015 stammen könnten: Darin sind etwa die Attraktivierung des Fuß-und Radverkehrs sowie des öffentlichen Raums vorgesehen, der Ausbau von „Flaniermeilen“ für Fußgänger, die Erleichterung der Öffnung von Einbahnen für den Radverkehr, der Ausbau der Radinfrastruktur und des Citybike-Netzes.
Nach wie vor ist in diesen Bereichen viel zu tun: Während Paris 105 Leihräder pro 10.000 Einwohner zur Verfügung stellt, sind es in Wien umgerechnet gerade einmal acht Stück. Auch bei den Leihautos liegen Paris, Kopenhagen oder Brüssel vor Wien. Vor allem sind sie dort bereits emissionsfrei unterwegs, also E-Autos. Einen problematischen Spitzenplatz nimmt Wien dafür bei der Verteilung des öffentlichen Raums ein: 28 Prozent des Wiener Straßenraums sind für Parkplätze reserviert, das ist beinahe doppelt so viel wie in Rotterdam oder Kopenhagen, wo man den Platz für mehr Gehsteige, Radwege, Alleen und Parks nützt.
Vor allem beim Verkehr, der dreimal so viel Treibhausgase produziert wie etwa das Heizen, stoßen Änderungen in Wien oft auf erbitterten Widerstand. Die Pariser Bürgermeisterin hingegen verweist selbstbewusst auf ein Netzwerk in ihrem Rücken: „Ich habe dieselbe Vision wie meine Gesprächspartner im Ausland. Paris ist nicht allein: Alle großen Städte führen diesen Kampf!“, erklärt sie im Interview mit der Wirtschaftszeitung La Tribune. Klimaschutzmaßnahmen wie der Ausbau der E-Mobilität seien nur im Verbund mit anderen Städten durchsetzbar: „So kommt niemand mehr an den Vorgaben, die wir machen, vorbei. Wir spielen eine maßgebliche Rolle, wenn es um Verhaltensänderungen geht.“
Wenn Hidalgo „wir“ sagt, meint sie damit das Städtenetzwerk C40, dessen Vorsitzende sie derzeit ist. Es wurde 2005 vom damaligen Londoner Bürgermeister Ken Livingstone unter dem Namen „Large Cities Climate Leadership Group“ als Bündnis der 20 weltgrößten Metropolen mit dem Ziel initiiert, effi zient Maßnahmen gegen die Klimaerwärmung umzusetzen. Nach einem Jahr waren bereits 40 Megacities verbunden, heute besteht das kurz C40 genannte Netzwerk aus 91 Städten mit insgesamt über 650 Millionen Einwohnern, die ein Viertel des weltweiten BIP erwirtschaften.
Ein Beispiel zur Illustration der „Vorgaben“, die Hidalgo anspricht: Ende Oktober beschlossen in Paris zwölf Bürgermeister, ihre Busflotten ab 2025 ausschließlich mit emissionsfreien, also elektromobilen Fahrzeugen nachzurüsten. Da bei dem Cities4Climate genannten Treffen unter anderem die Vertreter von London, Mexiko und Los Angeles am Tisch saßen, änderte der Pariser Bürgermeistergipfel das Mobilitätsverhalten von über 30 Millionen Menschen.
So entsteht Druck auf die Industrie: „Ein Autohersteller hat mir vor einigen Tagen anvertraut, dass seine Aufgabe heute nicht mehr so sehr darin besteht, Autos zu produzieren, sondern Mobilitätslösungen zur Verfügung zu stellen. Er hat verstanden, dass hier ökonomisches Potenzial vorhanden ist“, führt Hidalgo gegenüber La Tribune aus. Sie dürfte auf viele überzeugend wirken: Ihre konsequente Politik brachte Paris den iCapital Award für die innovativste europäische Stadt des Jahres 2017 ein.
Gut die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in Städten, Tendenz steigend. Städte stoßen bereits jetzt etwa 70 Prozent der weltweiten Treibhausgase aus, können aber auch wesentlich flexibler auf neue Anforderungen reagieren als Staaten: „Auf nationalstaatlicher Ebene werden Anliegen verschiedenster Akteure und Interessengruppen verhandelt. Städte können konkret auf ihren Straßen, im Energie-oder im Ernährungsbereich Maßnahmen umsetzen, die zur Reduktion des CO -Ausstoßes und zum Klimaschutz etwas beitragen“, erklärt Barbara Alder, die für C40 zuständige Fachstellenleiterin des Kantons Basel. Die Bürgermeister verschwenden ihre Zeit außerdem nicht mit fruchtlosen Diskussionen: „Es wird weder die Tatsache des Klimawandels infrage gestellt noch debattiert, wie viel Grad Erderwärmung noch tolerabel sein könnte -das Ziel war und ist schlichtweg, jetzt zu handeln.“
Was aber hat ein Großstädtchen wie Basel überhaupt im Netzwerk der globalen Megacities zu suchen? „Innovator Cities“ heißt die Überschrift, unter der auch kleinere Städte daran teilnehmen können, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen. In Basel ist man vom Sinn dieses Engagements überzeugt: „Wir können unser Fachwissen erweitern und zugleich das eigene Know-how im Bereich Klimaschutz weitergeben. Bei der Umsetzung unserer eigenen Umwelt-und Klimaziele kann eine Organisation wie C40 wertvolle Inputs im Sinne von Best Practice liefern“, so Alder, die das Städtenetzwerk mit einem Katalysator vergleicht, „der sowohl Anstoß, Austausch wie auch Unterstützung bietet“. Auch Basel rüstet seine Busflotte um, allerdings schneller als die Cities4Climate: Bereits 2027 soll die Umstellung auf erneuerbare Energieträger abgeschlossen sein. Ein ähnliche Politik verfolgt Heidelberg, ebenfalls C40-Innovator-City. Die Stadt ist dem Netzwerk beigetreten, um ihre Erfahrungen mit Passivhaussiedlungen einzubringen, und kooperiert intensiv mit chinesischen Städten. Netzwerke wie C40 bedeuten gegenseitige Impulse und ständiges Voneinander-Lernen, erklärt Sabine Lachenicht, die Heidelberger C40-Verantwortliche. „Je mehr Städte dabei präsent sind, desto besser.“
Seit seiner Gründung 2005 gewinnt das Netzwerk tatsächlich kontinuierlich an Größe und Bedeutung. Das seit der Jahrtausendwende vielbeschworene „Zeitalter der Städte“ nimmt damit Gestalt an. Bei Klimaschutzgipfeln spielt der selbstbewusste Städtebund stets eine wichtige Rolle, so auch beim Anfang Dezember abgehaltenen ersten North American Climate Summit, bei dem die Bürgermeister zahlreicher USamerikanischer Städte demonstrierten, sich von einem Klimaskeptiker an der Spitze des Landes nicht von ihren Klimaschutzzielen abbringen zu lassen.
Wien ist nicht Mitglied des Netzwerks. Warum eigentlich? Auch für die österreichische Hauptstadt spielt Vernetzung eine zunehmend wichtige Rolle, betont Bernd Vogl, Leiter der für Energieplanung zuständigen MA 20. Neben der sattsam bekannten Mercer-Studie gibt es schließlich noch einen zweiten Bereich, in dem Wien sich in internationalen Rankings gut behauptet. So ist Wien etwa für das globale Beratungsund Investment-Management-Unternehmen JLL Weltführer im Bereich „Being Smart“. Das Wiener Smart-City-Konzept gilt als vorbildlich, da es nicht nur Innovation und Ressourcenschonung, sondern auch die Lebensqualität einbezieht.
„Dass die menschliche Ebene mitbedacht wird, zeichnet das Wiener Smart-City-Konzept aus“, ist Wiens oberster Energieplaner überzeugt. In Sachen Klimaschutz hebt er das hiesige Know-how bei der Gebäudetechnik hervor. Der Besuch des Pariser Öko-Vorzeigeviertels, das international für Furore sorgt, bestätigte für Vogl, dass der Wiener kommunale Wohnbau den Vergleich nicht zu scheuen braucht. Nur: „Vielleicht verkaufen wir uns noch zu schlecht.“
Der Bedeutung von internationalen Netzwerken bei der Außenwirkung ist man sich im Magistrat mittlerweile bewusst, doch noch sei man am Ausloten, bei welchen Initiativen Wien sich in Zukunft verstärkt einbringen werde. Die Stadt beteiligt sich am europäischen Energieplanungs-Netzwerk Urban Learning und macht auch beim neuen Projekt des Solarflugpioniers Bertrand Piccard mit, der nach seiner solargetriebenen Weltumrundung derzeit „1000 Solutions“ für eine nachhaltige Zukunft sammelt. Vor allem aber setzt Wien auf das von Arnold Schwarzenegger gegründete Netzwerk „R20 -Regions of Climate Action“, das Klimaschutzprojekte auf regionaler Ebene fördert. Wien war heuer erstmals Schauplatz des von nun an jährlich stattfindenden R-20-Gipfels, bei dem Best-Practice-Projekte präsentiert werden.
Dass dieser R20 Austrian World Summit von nun an regelmäßig in Wien stattfinden wird, ist ein wichtiges Signal. Die Bedeutung von Netzwerken führte schließlich auch Wiens kürzlich gescheiterte Bewerbung um zwei EU-Agenturen vor Augen, die im Zuge des Brexit aus Großbritannien abgesiedelt werden. Dabei unterliefen zwar vor allem dem Außenministerium grobe Schnitzer, doch die eine oder andere Randbemerkung sollte auch Wien zu denken geben. Die Presse zitierte einen Vertreter einer internationalen Organisation, der anmerkte, dass Wien als Standort altmodisch zu werden drohe. Anders als Städte in der Schweiz oder in Skandinavien habe man „nicht verstanden, dass zur attraktiven Infrastruktur ein atmosphärisches Umfeld gehöre, das sich nach Zukunft anfühlt: Thinktanks, NGOs, der aufregende Buzz einer internationalen Community“. Amsterdam und Paris stachen die Wiener Bewerbung aus -zwei Städte, die schon lange bei C40 ihre Fäden knüpfen.