Mittlerweile erschienen: Meine NZZ-Besprechung von Julia Decks Roman „Winterdreieck“:
Ich ist eine andere
Der Schein trügt: Die geheimnisvolle Schönheit mit blonder Mähne, die in der westfranzösischen Hafen- und Werftstadt Saint-Nazaire im Wortsinn in einen Schiffsbau-Ingenieur hineinrennt und wenig später schon zu ihm ins Hotelzimmer zieht, ist gar keine erfolgreiche, unter Pseudonym schreibende Romancière. Schlimmer noch, wie der Ingenieur nach einigen Wochen heftigen Techtelmechtels herausfindet: Ihre Notizhefte, die der an der Nase Herumgeführte dann doch noch heimlich durchblättert, sind mit Kritzeleien gefüllt, die auch von einer Analphabetin stammen könnten. Ihr Name, Bérénice Beauregard, stammt aus einem Eric-Rohmer-Film. Hatte es die seltsame Unbekannte mit der geborgten Identität nur auf ein paar unbeschwerte Wochen mit Luxushotel und teuren Restaurants abgesehen, bezahlt durch Gegenleistungen im Kingsize-Hotelbett?
Etwas stimmt nicht
Der Schein trügt tatsächlich. Zwar lernen wir «Mademoiselle», wie sich die Erzählerin – bald in der ersten, bald in der dritten Person – selbst nennt, zunächst als Langzeitarbeitslose kennen, für die auch Gelegenheitsprostitution das geeignete Mittel zum Zweck ist, wenn das Geld für eine neue Garderobe nicht reicht. Doch geht es in Julia Decks Roman «Winterdreieck» nicht um eine Variation der sattsam bekannten Geschichte von der mittellosen, aber verführerischen Frau und dem erfolgreichen, aber einsamen Mann.
Im Lauf der Lektüre mehren sich die Anzeichen, dass etwas Gravierenderes nicht stimmt mit dieser Heldin, die es einerseits geschickt improvisierend versteht, ihrer Umwelt wochenlang falsche Identitäten vorzugaukeln, und die andererseits wieder teilnahmslos vor den Requisiten ihrer gerade noch mit Verve gespielten Komödie steht, unfähig, diese mit ihrem Leben und ihrer Gegenwart in Verbindung zu bringen. Albtraumhaft blitzen Erinnerungsfetzen an früher geführte Leben – oder gespielte Rollen? – im einen oder anderen Halbsatz auf, dann wieder flieht die Erzählerin vor nur für sie hörbaren Schreien oder vor dem «Monster, das in der gedächtnislosen Bérénice schlummert».
Verschwimmende Gewissheiten
Schon in ihrem vielbeachteten Erstling «Viviane Elisabeth Fauville» verstand es Julia Deck meisterhaft, tief in die Seele ihrer an einer schweren Psychose leidenden Ich-Erzählerin einzutauchen und die Anhaltspunkte bei der Lektüre des zunächst vermeintlich einfachen Krimis Stück für Stück im Strudel des Wahnsinns verschwinden zu lassen, bis sich zum Schluss weder die Tat noch Täter oder Täterin mit Sicherheit benennen liessen.
Ähnlich geht sie in «Winterdreieck» vor: Zuerst unmerklich beginnen die Gewissheiten zu verschwimmen in dem kurzen Text, den glasklare Sätze und präzise geometrische Beschreibungen der Nachkriegsarchitektur französischer Hafenstädte prägen – bis schliesslich kein fester Punkt mehr vorhanden ist, an dem man den interpretatorischen Hebel ansetzen könnte. Wie Mademoiselles Liebhaber droht der Leser angesichts der manchmal gerissen und eiskalt kalkulierenden, dann wieder apathisch-drögen Heldin langsam, aber sicher der Verzweiflung anheimzufallen – oder der Bewunderung für eine Autorin, die stilistische Brillanz mit profundem Wissen um so manchen Abgrund der menschlichen Seele zu verbinden versteht.
Julia Deck: Winterdreieck. Roman. Aus dem Französischen von Antje Peter. Wagenbach, Berlin 2016. 144 S., Fr. 26.90.