Darf man einen Roman über das Verbrechen von Amstetten schreiben und den Täter wie im wirklichen Leben „Josef Fritzl“ nennen? „Non-fiction-novel“, würde man auf Englisch dazu sagen, Autor Régis Jauffret beharrt jedoch darauf: Das Buch ist eine Fiktion. Eine schwer auszuhaltende, die aber auf ausführlichen Recherchen beruht und unangenehme Fragen aufwirft. Österreichische Zeitungen (Presse, Salzburger Nachrichten, Falter usw) haben teilweise heftig auf das Buch reagiert, von „Dreck“ bis „Perfidie“ reichten die Vorwürfe. Ich teile den unterschwelligen Wunsch nach Zensur, der viele antreibt, nicht. Hier meine NZZ-Besprechung:
Der Kuckuck im Keller
Als Nestbeschmutzer zu gelten ist für einen österreichischen Künstler kein Makel. Die Erfahrung lehrt: Stinkt in diesem Nest etwas zum Himmel, dann stammt der Dreck meist nicht von demjenigen, der darauf hinweist. Im Fall von Régis Jauffrets Roman „Claustria“ ist die Sache komplizierter: Es ist ein französischer Autor, der in seinem Buch und bei öffentlichen Auftritten schwerwiegende Vorwürfe gegen die österreichischen Behörden erhebt. Noch dazu im unerträglichen Fall Fritzl, von dem man drei Jahre nach dem Prozess endlich Ruhe zu haben glaubte. Tatsächlich hat Jauffrets Roman über das Verbrechen von Amstetten in Österreich leidenschaftliche Debatten ausgelöst. Diese drehen sich aber weniger um die Punkte, in denen er Justiz, Polizei und Jugendwohlfahrt katastrophale Fehler vorwirft, als vielmehr um die Fragen: Darf er das? Oder steckt da einer seinen Schnabel in unterirdische Nester, die ihn nichts angehen? Handelt es sich gar um eine Art Kuckucksdreck, eingeschleppt von einem ausländischen Autor?
Wie im Volkslied sind auch in der öffentlichen Diskussion die Esel nicht weit, wenn vom Kuckuck die Rede ist. Jauffret habe die Intimsphäre der Opfer verletzt, weil er Josef Fritzl in seinem Roman beim Namen nennt, lautet der absurdeste unter den Kritikpunkten am Roman. Offen bleibt freilich, was gewonnen wäre, hieße der Täter im Buch Franzl oder Seppl. Weiters delektiere sich Jauffret an unappetitlichen Details der geschilderten Vergewaltigungen, treibe ein perfides, voyeuristisches Spiel mit dem Leser und stelle alle Österreicher unter Generalverdacht, wie schon der Titel verrate.
Was hat „Monsieur Jauffret“, wie er auch mit deutlich mitschwingendem Ressentiment genannt wird, denn angestellt, dass die Reaktionen so heftig ausfallen? Die Antwort ist über 500 Seiten dick: Es ist die bloße Existenz des Romans, die man ihm vorwirft. „All das hat man irgendwie geahnt und will es im Detail vielleicht gar nicht so genau wissen“, bringt ein prominenter Kritiker die Stimmung vieler auf den Punkt. Was ja auch nachvollziehbar ist: Ob es nun um das Heranwachsen Josef Fritzls vom misshandelten Buben zum „Monster von Amstetten“ geht, um das einsetzende sexuelle Interesse an seiner 11-jährigen Tochter, um den monströsen Plan, der in ihm heranreift und den er schließlich umsetzt – es ist qualvoll, diesen Roman zu lesen. Jauffret versetzt sich in Fritzls Welt, interessiert sich aber vor allem für die Perspektive der zuerst rebellischen, dann eingekerkerten Tochter und ihrer im Keller geborenen Kinder. Wie liefen Schwangerschaften und Geburten im Verlies ab? Wie reagierten die Kinder, als sie zum ersten Mal durch den Fernseher Bilder der Welt von draußen sahen? Wie entwickelte sich die Beziehung zwischen Fritzl und seiner Tochter in diesen vierundzwanzig Jahren? Gab es im Keller nicht auch glückliche Momente? Es sind verstörende Szenen aus dem unterirdischen Alltag, die sich Jauffret als Antwort auf diese und viele weitere Fragen ausmalt. Von der ersten bis zur letzten Zeile wünscht man sich, dass das Gelesene nicht wirklich passiert sein möge. Ist es auch nicht, es handelt sich um eine Fiktion. Allerdings auch um eine, die auf soliden Fakten beruht, die Jauffret zusammengetragen hat. So ähnlich könnte es gewesen sein. Das ist zutiefst beunruhigend, und das nehmen viele Rezensenten dem Autor übel.
Und das angebliche Österreich-Bashing? Nun, wer bei Passagen nicht zwischen den Zeilen zu lesen vermag, in denen ein Gericht Akustikexperten durchs Land schickt, weil jemand zu laut Nüsse knackt oder eine Neonröhre heftig knistert, der wird sich über manches ärgern. Vielleicht auch über die Szene, in der ein Amstettner Taxifahrer zum Ich-Erzähler sagt: „Diese Geschichte ist schlechte Werbung für unsere Stadt“, dann kurz nachdenkt und nachsetzt: „Aber trotzdem Werbung.“.
Treffsicherheit kann man Jauffret jedenfalls nicht absprechen. Ähnlich zielgenau in die wunden Punkte lenkt er die Fragen, die als Schlussfolgerungen seiner Recherchen offen bleiben: Wie konnte ein Prozess dieser Dimension in nur vier Tagen durchgezogen werden? Ist es wirklich vorstellbar, dass niemand im Haus etwas von der Familie im Keller mitbekommen hat? War der Keller überhaupt schalldicht? Und: Warum beträgt der Strafrahmen für Inzest in Österreich eigentlich nur drei Jahre? Der Justizsprecher der SPÖ forderte nach Erscheinen des Buches eine Untersuchungskommission für den Fall Fritzl unter Einbeziehung von FBI-Experten, analog zum Fall Kampusch. Einstweilen schlägt man noch nach dem vermeintlichen Kuckuck Régis Jauffret – doch aus dem Keller riecht es seltsam.