«Das Ende der Arbeiterklasse»
Erz, Herz und Schmerz
31.12.2014, 05:30 Uhr
Wer Pathos schlecht verträgt, wird sich mit diesem Roman schwertun. Immerhin geht es hier nicht einfach um lothringische Minenarbeiter, sondern um «Väter, die aus Italien, Polen und von anderswo hergekommen, den Ungeheuern des Erdreichs und den Höllenwächtern in ein und derselben Opfergabe zum Frass vorgeworfen worden waren». Morgen für Morgen ziehen sie los, um «das heilige Feuer zu stehlen, begleitet von der Solidarität der Kameraden und der Todesangst im Bauch». Wenige Seiten später sind sie dann «Schmetterlinge im Spinnennetz des Eiffelturms, ein kleines Stück Stahl aus Lothringen, das die Hauptstadt erstrahlen liess».
Die kleine Geste ist eben nicht Sache Aurélie Filippettis, Kulturministerin unter François Hollande von 2012 bis 2014, derzeit wegen ihrer Affäre mit dem sozialistischen Rebellen Arnaud Montebourg vor allem auf den «People»-Seiten der französischen Presse zu finden. 2003, als ihr Roman «Das Ende der Arbeiterklasse» im Original erschien, sammelte die damals für die Grünen engagierte Politikerin bereits Regierungserfahrung als Mitarbeiterin im Umweltministerium unter Lionel Jospin. An der Eliteschmiede Ecole normale hatte sie zuvor Literatur studiert, kurz war sie Französischlehrerin.
In ihrem Roman erzählt sie die eng verbundenen Geschichten ihrer Familie und ihrer Heimatregion, des nördlichen Lothringen. Der Grossvater ist einer der zahllosen italienischen Immigranten, die von der Aussicht auf einen gutbezahlten Job in der boomenden französischen Metallindustrie über die Alpen gelockt wurden. 1944 wird er als Mitglied der lokalen Résistance unter Tage von der Gestapo verhaftet, gefoltert und nach Bergen-Belsen deportiert, wo er kurz nach der Befreiung an Typhus stirbt. Sein Sohn Angelo – der Vater der Erzählerin – tritt in die Fussstapfen des Ermordeten, beginnt mit vierzehn in der Mine zu arbeiten, wird Kommunist und später Bürgermeister. Er geht wie viele seiner Genossen am Lungenkrebs zugrunde, als dessen Ursache die Amtsärzte stets das Rauchen, aber nie den Staub der Minen erkennen wollen. Parallel zum Leben von Angelo erfährt Lothringens Metallindustrie ihren Aufstieg, Höhepunkt und Niedergang. 1992, in Angelos Todesjahr, wird auch die letzte Mine geschlossen. Lothringen ist damit «entschieden dem lautlosen Untergang geweiht, niedergestreckt mit einem Keulenschlag, ein Knall, dumpf, ein erbärmlicher Schutthaufen».
Vom hohen Ton dieses Romandebüts einer Musterschülerin sollte man sich dennoch nicht abschrecken lassen: Zum einen ist das Buch eine literarische Verbeugung vor den Leistungen vorangegangener Generationen, der man eine gewisse Feierlichkeit schon zugestehen kann. Zum anderen fügen sich seine Momentaufnahmen, Gesprächsfetzen und Erinnerungsblitze nach und nach zu einer faszinierenden, wenig bekannten Geschichte. Sie handelt von einem jahrzehntelangen Kampf in einem staubigen Winkel Frankreichs: Die italienischen Immigranten und ihre Kinder kämpfen um ihren Platz in einer feindseligen Gesellschaft, die Bergleute zunächst erfolgreich um menschenwürdige Lebensbedingungen, später chancenlos gegen eine globalisierte Stahlindustrie, der die hiesigen Erzvorkommen schlicht zu wenig profitabel sind.
Es ist ein in jeder Hinsicht aussichtsloser Kampf, der vielen nur die Wahl zwischen Niederlage und Selbstaufgabe lässt. Am schonungslosesten tobt er aber im Inneren der Bergarbeiter-Familien: Der Preis des sozialen Aufstiegs, den sie für ihre Kinder herbeisehnen, ist die Aufgabe ihrer Identität. Oder, wie es ein Genosse Angelos auf den Punkt bringt: «Wenn wir es schaffen, sind wieder sie es, die gewinnen.»
Aurélie Filippetti: Das Ende der Arbeiterklasse. Ein Familienroman. Aus dem Französischen von Angela Sanmann. S. Fischer, Frankfurt 2014. 192 S., Fr. 27.50.