Kann man jetzt schon beim Osterhasen vorbestellen, im März ist es dann im Handel:

Kann man jetzt schon beim Osterhasen vorbestellen, im März ist es dann im Handel:
Für den „Falter“ habe ich über die Pariser Stadtentwicklung berichtet – von der Wien unendlich viel lernen könnte:
Knapp zwei Monate sind es noch bis zur Gemeinderatswahl. Der Bürgermeister liegt in den Umfragen voran. Er lädt in ein Fahrradcafé und verkündet, dass er nach seiner Wiederwahl jeden zweiten Parkplatz streichen wird. Das sind 60.000. Die Fläche würde für Radwege gebraucht: Es gäbe genug Garagenplätze.
Was in Wien nicht einmal als Satire denkmöglich ist, hat sich tausend Kilometer weiter westlich im Jänner 2020 so zugetragen. Der einzige Unterschied: Es war kein Bürgermeister, sondern eine Bürgermeisterin. Anne Hidalgo, seit 2014 die erste Frau an der Spitze der Pariser Stadtregierung. Schon vor sechs Jahren ließ die Sozialdemokratin im Rennen um das Rathaus mit einer spektakulären Ankündigung aufhorchen: Sie werde Paris zur Welthauptstadt des Fahrrads machen. Das trug ihr Spott ein, gelten Amsterdam und Kopenhagen da doch als uneinholbar. Radfahren war in Paris vor allem eines: lebensgefährlich. Doch die Spötter sind still geworden, Hidalgo hat ernst gemacht. Amsterdam ist zwar unerreicht, doch Paris am Rad ist heute gelebter Alltag.
Ein Traum (frz. „rêve“) steht im Zentrum des Projekts, für das die Stadtregierung in sechs Jahren 150 Millionen Euro lockergemacht hat: Ein 61 Kilometer langes Netz von Zwei-Richtungs-Radwegen entlang der Hauptverkehrsrouten, der Réseau Express Vélo, abgekürzt REVe. Vier Meter breit sind die Fahrrad-Highways, die das Stadtbild prägen. Etwa entlang der vormals vierspurigen Rue de Rivoli, der zentralen Ost-West-Achse zur Place de la Concorde. Eine Fahrspur wurde zum REVe umgebaut. Und unmittelbar nach der Eröffnung des ersten Teilabschnitts entfiel ein Drittel des Verkehrsaufkommens der sonst von Autos verstopften Rue de Rivoli auf den Radverkehr, verkündete Hidalgos Stellvertreter Christophe Najdovski.
Seit September steht beim Rathaus ein „Totem“ genannter Fahrradzähler, für März 2020 wurde hier mit der ersten Million gerechnet. Wie gut auch die anderen neuen Pariser Radwege angenommen werden, belegen Zuwachsraten, die Le Monde im Dezember veröffentlichte : 138 Prozent mehr Radfahrer in der Rue de Turbigo, plus 66 Prozent am Quai François-Mauriac, plus 80 Prozent am Boulevard Pasteur etwa. Insgesamt verzeichneten die Zählstellen ein Plus von 53,77 Prozent von 2018 auf 2019. Gemessen wurde noch vor den Streiks, die im Herbst die Radwege zum Überquellen brachten.
Über den Hauptgrund für die Zuwächse sind sich die Kommentatoren einig: Seit nicht mehr nur dort, wo es leicht geht, die eine oder andere Radspur an den Fahrbahnrand gepinselt, sondern ein durchdachtes, vom Kfz-Verkehr geschütztes Wegenetz umgesetzt wird, steigen viele auf das Fahrrad um. Gute Radwege locken diejenigen auf Hauptrouten, die zuvor in Seitengassen fuhren.
Ein wichtiges Element der Pariser Verkehrspolitik ist seit 2007 das Leihrad Vélib‘. Mit 20.000 Rädern und 300.000 Abonnenten galt es als bestes Leihradsystem der Welt, ehe es 2018 in die Krise schlitterte. Ein neuer Anbieter scheiterte an der Umstellung auf ein System, das 30 Prozent Elektrofahrräder bereitstellen und in die Banlieue reichen sollte. Ein Jahr lang war Vélib‘ so gut wie unbenützbar, das Ende des Pariser Fahrradzeitalters schien nahe. Doch seit 2019 geht es wieder aufwärts. Die technischen Probleme sind im Griff, das System hat mit 344.000 Abonnenten mehr Nutzer als je zuvor. Das dichteste Leihradnetz der Welt (1300 Stationen) bringt es auf 175.000 Fahrten pro Tag.
Sogar die notorisch unzufriedene Pariser Radlobby zeigt sich mittlerweile versöhnt: „Es gibt echtes politisches Engagement, sowohl im Dialog mit den Benützern als auch seitens der Bürgermeisterin, die persönlich Radwege einweiht. Das war vor einigen Jahren unvorstellbar“, so Simon Labouret, Sprecher von „Paris en selle“.
Doch in der ersten Hälfte von Hidalgos erster Amtszeit ging wenig weiter. Es dauerte, bis Radwege in den Köpfen der Beamten von einer Nebenzur Hauptsache der Verkehrsplanung wurden. Auch der Widerstand der Polizeipräfektur gegen jeden Quadratmeter Asphalt, der dem Kfz-Verkehr weggenommen wurde, war zäh. Zählt man die Radwegkilometer, hat Hidalgo ihr Ziel verfehlt: mit 1000 Kilometern ist sie 400 Kilometer unter Plan. Dennoch: Die Verkehrswende in den Köpfen hat stattgefunden. Der Traum von der autogerechten Stadt ist passé.
Nichts zeigt das deutlicher als eine Fahrt entlang des Filetstücks des alten Schnellstraßenrasters, mit dem der einstige Premier und Porsche-Fan Georges Pompidou die Hauptstadt überziehen wollte. Eine Meisterleistung der damaligen Ingenieurskunst ist der 861 Meter lange Tuilerien-Tunnel, zwischen Seine und rechtem Seitenflügel des Louvre. 1967 war der schönste Abschnitt der schönsten Schnellstraße der Welt folgender: Am Tunnelausgang öffnete sich ein herrlicher Blick auf den mittelalterlichen Kern der Stadt, die Île de la Cité -Sainte-Chapelle, Conciergerie, Notre-Dame. Weiter ging es unter dem Pont-Neuf hindurch, oft im Stau – aber mit Blick.
Doch Pompidous Schnellstraßenraster blieb Stückwerk. Den nach ihm benannten zentralen Abschnitt würde der 1974 verstorbene Benzinbruder heute kaum wiedererkennen: Bereits an der Place de la Concorde sperren Betonpoller die Fahrbahn für Kfz, der Tuilerien-Tunnel ist Radfahrern und Fußgängern vorbehalten. Aus der Schnellstraße wurde ein langgestreckter Park, Kinder flitzen auf Rollern hin und her, Erwachsene spielen Pétanque, picknicken, joggen oder flanieren. Die Türme und Mauern sind noch immer märchenhaft schön, nur stinkt es nicht mehr nach Abgasen. „Ich habe die Seine-Ufer nicht den Autos weggenommen. Ich habe sie den Parisern zurückgegeben“, bringt die Bürgermeisterin die Veränderung auf den Punkt.
Von manchen wird sie bereits mit Georges Eugène Haussmann verglichen, der als Präfekt unter Napoleon III. das heute vertraute Gesicht der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ schuf. Ähnlich wie Haussmann, der Paris durchlüften und von schädlichen Dünsten befreien wollte, geht es Hidalgo um die Pariser Luft: Feinstaub und Stickoxide machen das Atmen an zu vielen Tagen zum Gesundheitsrisiko, dazu kommt die von Jahr zu Jahr schlimmer werdende Hitze im Sommer. In ihrem Buch „Respirer“ („Atmen“), erklärte Hidalgo im Herbst 2018: „Ich kann handeln. Ich handle. Und die erste der großen Herausforderungen für die Stadt Paris, diejenige, die sich auf alle anderen auswirkt, ist der Klimawandel.“
Die Resultate sind messbar: Während der Anteil des Radverkehrs in die Höhe schnellte, sank 2019 der Kfz-Verkehr in der Hauptstadt um acht Prozent, über Hidalgos Amtszeit betrachtet um 19 Prozent. Im zwölf Millionen Einwohner starken Ballungsraum ging der Kfz-Verkehr erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg zurück, um immerhin fünf Prozent.
Der wahlkämpfenden Bürgermeisterin geht das nicht weit genug. Wenn Anne Hidalgo über die „radikale Veränderung“ von Paris spricht, meint sie nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft. Das für den Fahrradverkehr vorgesehene Budget soll während ihrer zweiten Amtszeit von 150 auf 350 Millionen Euro steigen, das entspricht 26 Euro pro Einwohner. Ausnahmslos alle Pariser Straßen sollen 2024 mit dem Rad befahrbar sein. Zu den vorhandenen 15.000 Fahrradabstellplätzen kommen 100.000 weitere. Die 60.000 gestrichenen Autostellplätze weichen einem „Vélopolitain“ genannten, 170 Kilometer langen Netz an Radwegen, das dem Verlauf der Metro folgt. „Ich will die Pariser nicht daran hindern, ihr privates Fahrzeug zu benützen, ich will ihnen die Möglichkeit geben, darauf zu verzichten“, so Hidalgo. Und niemand lachte, als sie bei der Präsentation ihrer Pläne einmal mehr ankündigte: „Paris wird die Hauptstadt des Fahrrads.“
Mein Beitrag für die NZZ zum 75. Jahrestag des Kriegsendes: Eine Reise entlang des nordfranzösischen Atlantikwalls.
Die Nationalsozialisten überzogen die Atlantikküste mit einem Festungssystem. Die Überreste zeugen von den Wunden, die der Weltkrieg in die Landschaft schlug. Doch die Bürde der Vergangenheit kann auch eine kreative Herausforderung sein.Georg Renöckl25.04.2020, 05.30 UhrHörenMerkenDruckenTeilen
13 Millionen Tonnen Beton, 290 000 Zwangsarbeiter, Hunderte in Todeszonen verwandelte Strandkilometer, 300 000 zur Verteidigung abgestellte Soldaten: ein immenser Aufwand, erkauft durch unfassbares menschliches Leid – und doch nur ein «riesiger Bluff». Um nichts anderes handelte es sich für Gerd von Rundstedt, Oberbefehlshaber von Hitlers westlichen Streitkräften, beim sogenannten Atlantikwall.
Die führenden Militärs wussten, dass die lose Kette von Bunkern und Festungen, sollte sie auch nur an einer Stelle durchbrochen werden, aufgrund ihrer zu geringen Verteidigungstiefe unhaltbar wäre. Die Treffsicherheit dieser Diagnose bewies der Juni 1944.
Doch auf den Bluff folgte zunächst ein Gegenbluff: Intensive Bombardements der Küstenabschnitte an der Strasse von Dover bestärkten die Deutschen im Glauben, dass die Alliierten für ihre Landung auf dem Kontinent den kürzesten Seeweg wählen und an den Stränden des Pas-de-Calais angreifen würden, während die Operation Overlord dann ein gutes Stück weiter im Süden stattfand.
Sie liegen noch an Ort und Stelle, teils zu Trümmern zerbombt, teils intakt geblieben, von der Natur in Beschlag genommen oder vom Menschen für andere Zwecke genützt: die Reste des Atlantikwalls, die bei aller militärischen Ineffizienz doch viel zu massiv waren, um an ihre Beseitigung nach Kriegsende auch nur denken zu lassen. In Nordfrankreich, wo die Deutschen die Landung der Alliierten erwarteten, aber auch ihre Vergeltungswaffen gegen London positionierten, sind besonders viele stumme Zeugen des nationalsozialistischen Grössenwahns zu bestaunen – im Urzustand oder in neuer Funktion.
Ein von der Natur zum Mahnmal gemachter Bunker befindet sich am Strand von Le Hourdel, an der Südspitze der Somme-Bucht: Wie ein besiegtes Monster liegt der düstere Koloss aus Stahlbeton kläglich umgekippt auf dem Sand, von den Gezeiten aus seiner Verankerung gerissen und unbrauchbar gemacht, erbärmlich und doch furchteinflössend.
Längst ist er zu einem Wahrzeichen der sonst vor allem für ihren spektakulären Gezeitenunterschied bekannten Landschaft an der Mündung der Somme geworden, wo sich neben historisch Interessierten hauptsächlich Robben- und Vogelbeobachter treffen – ein in seiner monumentalen Sinnlosigkeit beeindruckendes «objet trouvé», das die Geschichte der pikardischen Küste hinterlassen hat.
Scheinbar in ihrem furchterregenden Originalzustand verblieben ist hingegen die «Batterie Todt» 70 Kilometer weiter nördlich, am Cap Gris-Nez, nur 33 Kilometer von der Südküste Englands entfernt. Sie zählte zu den wichtigsten Festungen des Atlantikwalls und war ursprünglich mit vier 28-cm-Geschützen von über 80 Kilometern Reichweite ausgestattet. Eine der riesigen Kanonen, «Leopold» genannt, steht heute noch dort, als wäre sie jederzeit wieder dazu bereit, die englische Südküste unter Beschuss zu nehmen.
Im zum Museum gewordenen Inneren des Bunkers zeichnen Uniformen, Alltagsgegenstände und militärische Dokumente das Leben der Soldaten und die Einsätze der Kanonen nach. Ein Souvenirshop mit zweifelhaften Erinnerungsgegenständen schliesst eine Besichtigung ab, die zu den beklemmendsten Erfahrungen zählt, die man an diesem herrlichen Flecken Erde machen kann. Sogar der kleine Wald nebenan ist Teil der düsteren Geschichte des Ortes; er wurde zur Tarnung angelegt.
Um den Kopf wieder frei zu bekommen, empfiehlt sich ein Spaziergang: In einer Viertelstunde erreicht man auf einem Weg quer durch Gemüsefelder eine «Cran Poulet» genannte kleine Bucht zwischen den Uferfelsen, die von einer Statue der Jungfrau Maria geschmückt wird. Der bizarr geformte Fels ist blaugrau, das Meer schillert in der ganzen Bandbreite von Opalnoten, die dem Küstenabschnitt seinen Namen gegeben haben.
Auch hier steht ein von der Brandung umtoster Bunker, doch er wirkt nicht mehr kriegerisch: Ein unbekannter Graffiti-Künstler hat den vergleichsweise kleinen Betonkubus mit einem riesigen Auge verziert, das dem Wanderer unverwandt entgegenblickt. Oder sieht es doch eher aufs Wasser hinaus? Ein Satz neben dem Bild ist weitgehend verwittert, «Planète» lässt sich noch entziffern und «chavire», also «kentert».
Genug, um es dem Auge gleichzutun und nachdenklich auf das Stückchen Atlantik hinauszublicken, dessen Bezeichnung «Ärmelkanal» so viel harmloser klingt, als es der oft so ungestüm an der Küste rüttelnde Ozean eigentlich ist. Vor der existenziellen Bedrohung, der wir auf unserem wärmer werdenden Planeten heute überall entgegensehen, schützt kein Bunker.
Der Landstrich um das Cap Gris-Nez mit seinen Buchten und Blockhäusern zählt zu den achtzehn mit dem Label «Grand Site de France» ausgezeichneten Gebieten Frankreichs, wozu aber nicht nur die landschaftliche und architektonische Schönheit der Küste und die intakte Landwirtschaft des Hinterlands beitragen: «Wir haben uns mit dem klar formulierten Willen um das Label beworben, die Narben, die der Weltkrieg in die Landschaft geschlagen hat, nicht zu verstecken», erklärt Diana Hounslow, oberste Touristikerin des Département Pas-de-Calais.
Nicht nur die Landschaft hat Wunden davongetragen. Diana Hounslow erzählt von einem Drehtag mit einem belgischen Filmteam im Dorf Eperlecques. Dort hatten die Nazis eine Abschussrampe für ihre V2-Raketen mit angeschlossener Flüssigsauerstofffabrik errichtet, einen der grössten Bunker Frankreichs, der jedoch noch vor Abschluss der Bauarbeiten durch Bomber der Alliierten unschädlich gemacht wurde.
Ein alter Herr, der den Bau als Kind miterlebt hatte, erklärte der perfekt französisch sprechenden gebürtigen Britin, die er für einen Teil des belgischen Teams hielt: «Sie haben Glück, dass Sie keine Engländer sind, sonst hätte ich nicht mit Ihnen gesprochen.» Mehr war aus dem Mann nicht mehr herauszubekommen, der zuerst die Naziherrschaft und dann die Luftangriffe der Alliierten auf sein Heimatdorf miterleben musste. Hunderte Zwangsarbeiter starben im Bombenhagel.
Auch Eperlecques ist heute ein Museum, das seine Wirkung auf den Besucher nicht verfehlt. Eine etwas effektheischende Inszenierung mit Kriegslärm, Hundegebell und markant platzierten Erinnerungsstücken trägt dazu bei, doch es ist vor allem die gigantische, auch bei sommerlichen Temperaturen eisige Kälte aus ihrem Inneren verströmende Betonruine selbst, deren martialische Ästhetik tonnenschwer auf dem Gemüt lastet.
Ähnlich ist der Eindruck bei einem Besuch der «Coupole», wie ein weiterer Raketensilo im Grossraum von Saint-Omer heisst, oder, auf halbem Weg zur Küste, beim Bunker von Mimoyecques: Es handelt sich um die Reste einer Abschussrampe für eine «Vergeltungswaffe 3» genannte Mehrkammerkanone, mit der die Nazis London direkt beschiessen wollten. Ihre Rohre waren hundert Meter lang und mussten fix installiert werden.
Tausende Zwangsarbeiter schufteten unter der Oberfläche des Hochplateaus von Mimoyecques, das im Frühjahr 1944 durch Tallboy-Bomben zerstört wurde. Die Krater in der Landschaft sind 15 Meter tief und haben Durchmesser von 35 Metern. Zumindest eine Bombe fiel direkt ins Stollensystem und brachte es zum Einsturz. Wie viele Menschen dabei ums Leben kamen, ist nicht bekannt. In den Resten der V3-Anlage haben sich mittlerweile seltene Fledermausarten angesiedelt.
«Dark tourism» ist aber nicht der beste Grund, den einen oder anderen Überrest des Atlantikwalls aufzusuchen. Standen in den Jahrzehnten nach dem Krieg die einander widersprechenden Bedürfnisse im Vordergrund, die schrecklichen Ereignisse entweder möglichst gründlich zu verdrängen oder aber museal aufzubereiten, auf dass auch spätere Generationen ihrer gedenken können, geht man heute längst unverkrampfter mit den Zeugen der Vergangenheit um.
Zwischen Dunkerque und der belgischen Grenze, bei Leffrinckoucke, befindet sich in den Stranddünen eine weitere Festungsanlage. Wie ein Elefantenfriedhof für Betonriesen wirkt sie vom schier endlosen Sandstrand aus. Die aus ihren Positionen gerissenen Kolosse am Strand und die intakten Unterstände hinter den Dünen sind von Graffiti übersät. Hier ist Bertrand Seguin aufgewachsen, ein heute 42-jähriger plastischer Künstler, der nach langen Aufenthalten in Asien mittlerweile in Paris lebt.
Das Bunkersystem von Leffrinckoucke war der Abenteuerspielplatz seiner Kindheit. Als Erwachsener begriff Seguin, wie belastend das Erbe des Zweiten Weltkriegs für die Menschen in seiner Heimat war. Dunkerque, Schauplatz der Operation Dynamo, im Zuge deren die in der Falle sitzende britische Expeditionsarmee im letzten Moment aus der deutschen Umklammerung gerettet werden konnte, liegt in Sichtweite. Das Wrack eines der damals von Stukas attackierten Zivilschiffe, die zur Evakuierung der Soldaten herangezogen wurden, ist bei Ebbe nach wie vor zu sehen: Vor dem Nachbarort Zuydcoote lief der in Brand geschossene Themse-Raddampfer «Crested Eagle» auf Grund, wie viele Menschen dabei starben, weiss niemand.
2014 hatte Bertrand Seguin, der sorgenvoll beobachtete, wie die einst für ihre Solidarität bekannten Menschen im Norden Frankreichs angesichts der Migrationskrise überfordert und immer defensiver reagierten, eine Idee. Ohne lang um eine Genehmigung anzusuchen, begann der Künstler, Spiegelscherben auf ein etwas isoliert von den anderen am Rand der Dünen gelegenes Betonblockhaus zu kleben. Seguin wollte seiner Heimat zu neuem Selbstbewusstsein und einem neuen Wahrzeichen verhelfen. Stück für Stück verschwand das finstere Nazi-Blockhaus hinter einer vielfach gebrochenen spiegelnden Oberfläche.
«Eine Genehmigung hätte ich dafür nie bekommen, also habe ich ein Buch aufgelegt, in dem Passanten ihre Meinung zu meinem Projekt festhalten konnten, während ich schon daran arbeitete. Das Echo war überwältigend, damit bin ich dann zu den Behörden gegangen.» Die offizielle Erlaubnis trudelte denn auch wenig später ein. 18 Monate nachdem Seguin die erste Scherbe auf dem Beton befestigt hatte, stand das völlig verwandelte Blockhaus vor ihm: Aus einem düsteren Gebäude war ein strahlend helles Objekt geworden, das auch noch den letzten Rest Tageslicht einfängt und reflektiert.
Der scheinbar rigide und unveränderliche Block wirkt mit einem Mal lebendig und wechselt ständig sein Äusseres, an die Stelle der Robustheit des Betons ist die Zerbrechlichkeit der Spiegel getreten. «Réfléchir», was «Widerspiegeln», aber auch «Nachdenken» bedeutet, nennt Seguin sein Kunstwerk, das die düsteren Zeitzeugen an der Küste überstrahlt, ohne den Betonkoloss von einst dafür völlig zum Verschwinden gebracht zu haben.
«Man muss die Vergangenheit ausleuchten, um die Gegenwart aufzuklären», sagt Seguin überzeugt, der weitere Projekte im Raum Dunkerque plant. Mit dem Bild des verwandelten Bunkers vor Augen und diesem Satz im Gepäck wird die Fahrt entlang der Betonreste des Atlantikwalls nicht zur blossen Pilgerfahrt in die finstere Vergangenheit, sondern zum Durchmessen eines vielversprechenden Möglichkeitsraums. Beton, der auf vielfältige Weise noch zum Leuchten gebracht werden kann, gibt es hier schliesslich genug.
Reisen kann man derzeit nur im Kopf. Hier ein paar Bilder und eine Geschichte aus Roubaix – an „Hölle des Nordens“ denken bei diesem Namen sicher nur Menschen, die diese phantastische Stadt nicht kennen. Eine Presse-Reise…
REPORTAGE
Auch wenn wir in diesem Frühling 2020 andere Sorgen haben: Nach der Coronakrise werden wir wieder reisen. Aktuell können wir träumen, nachlesen, ja vielleicht sogar planen.
Es fühlt sich so an, als hätte ich jahrelang auf genau diesen Ort gewartet“, beschreibt Illustratorin Flora Beillouin ihren neuen Arbeitsplatz. Die vielseitige Künstlerin arbeitet gerade an einer Serie von Linolschnitten, die prominente Bewohner der Stadt vor dem Hintergrund erträumter Pflanzenparadiese zeigen. An anderen Tagen betreut die ausgebildete Journalistin Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen Milieus, die gemeinsam neue Videoformate entwickeln. Ihr Atelier befindet sich in einem Palast, doch der war ursprünglich ein reiner Zweckbau: In der 1901 im nordfranzösischen Roubaix errichteten „Condition publique“ wurde einst Wolle gewogen, auf Feuchtigkeit und Qualität überprüft und eingelagert. Wie an kaum einem anderen Gebäude kann man an dem einstigen Industriepalast die Geschichte der Stadt zwischen Lille und der belgischen Grenze ablesen: Die prächtige Fassade zeugt von altem Reichtum, doch man sieht ihr auch an, dass die Räder im Inneren schon lang stillstehen. Viel Street-Art ist an ihren Mauern und in den Straßen in der Umgebung zu sehen, doch sind die Bilder, die in keinen Rahmen passen wollen, nicht wie andernorts ein Hinweis auf Verwahrlosung – eher im Gegenteil: Die anarchische Kunstform ist ein wesentlicher Bestandteil des neuen Lebensabschnitts, in den der Wollpalast und die ganze Stadt längst aufgebrochen sind. Die Geschichte von Roubaix folgt dem Schema eines Heldenepos, in dem auf einen steilen Aufstieg und eine glanzvolle Periode ein tiefer Fall, die Läuterung und dann ein zweiter Frühling folgt.
Vor einigen Jahren noch war Roubaix eine der reichsten Städte Frankreichs. Der alte Wohlstand geht auf das Jahr 1469 zurück. Damals erhielt das flämische Städtchen von Karl dem Kühnen das verbriefte Recht, Wollstoffe herzustellen und damit zu handeln. Textilmanufakturen entstanden, Roubaix wurde reich, blieb aber – wie das übrige Flandern jahrhundertelang zwischen verschiedenen Herrschaftsbereichen hin- und hergerissen – vergleichsweise klein. Gerade einmal 8000 Einwohner hatte die längst französisch gewordene Textilstadt noch im Jahr 1800. Dann kam die Dampfmaschine, und keine hundert Jahre später lebten schon 125.000 Menschen aus aller Herren Länder in der kaum wiederzuerkennenden „Stadt der tausend Schlote“. 1911 beauftragten die stolzen Bürger von Roubaix den Architekten Victor Laloux, der auch den Pariser Orsay-Bahnhof geplant hatte, das prächtigste Rathaus Frankreichs zu bauen. Wenige Jahre später plünderten und demontierten die deutschen Besatzer die Fabriken der Stadt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der berühmte Ausspruch von der „Hölle des Nordens“ geprägt: Er bezeichnete ursprünglich die vom Krieg verwüsteten Gebiete Nordfrankreichs, durch die das berühmte Radrennen Paris-Roubaix führte, blieb aber bis heute am Rennen und seinem Ziel Roubaix kleben.
Die Stadt konnte bald wieder an die alte Vormachtstellung auf dem Textilsektor anknüpfen. Industrielle ließen sich prächtige Villen etwas außerhalb des Zentrums bauen, das permanent in eine stinkende Wolke aus Lanolin und Kohlenrauch gehüllt war. Die heute noch interessanteste von allen ist das riesige Einfamilienhaus, das der Textilindustrielle Paul Cavrois für sich und seine große Familie von Robert Mallet-Stevens planen ließ, einem Intimfeind Le Corbusiers. Die 1932 fertiggestellte Villa Cavrois gilt als Hauptwerk des kompromisslos modernen Architekten. „Wahrer Luxus bedeutet, in einem hellen, freundlichen, luftigen Umfeld zu leben, mit gut funktionierender Heizung und so, dass möglichst wenig unnützer Aufwand und Personal nötig sind“, erklärte Mallet-Stevens mit viel Understatement die Prinzipien, die der Villa mit 2400 m2 Wohnfläche und teilweise sechs Meter hohen Räumen zugrunde liegen sollen. Ästhetisch, aber auch haustechnisch war das Gebäude seiner Zeit voraus, doch in den achtziger Jahren wäre es beinahe abgerissen worden. Roubaix hatte einen tiefen Fall hinter sich. In den 60ern war die französische Textilindustrie in die Krise geschlittert. Die Fabriken sperrten zu, Zehntausende verloren ihre Arbeit. 1972 schloss auch die Condition publique ihre Pforten. Das elegante Zentrum der auf einen Schlag verarmten Stadt wurde schmuddelig, das prachtvolle Rathaus wirkte seltsam deplatziert, die Industriepaläste verfielen. Den Tiefpunkt erreichte die Krise Roubaix‘ im Jahr 1985, als das städtische Schwimmbad, schlicht „La Piscine“ genannt, schloss. Es war der letzte verbliebene Rest des alten Glanzes: Das unter dem ersten sozialistischen Bürgermeister der Stadt, Jean Lebas, im Jahr 1932 eröffnete Bad war das schönste Frankreichs gewesen. Doch in den 1980er Jahren fehlte das Geld für die notwendige Totalrenovierung.
Es folgten bleierne Jahrzehnte, erst die Jahrtausendwende brachte einen Neubeginn. 2001 eröffnete die „Piscine“ wieder – als Museum für Kunst und Gewerbe. Die Einwohner von Roubaix hatten ihre alte Liebe zum Schwimmbad nicht vergessen: Das für etwa 60.000 bis 80.000 jährliche Besucher geplante Museum platzte bald aus allen Nähten. 200.000 Menschen im Jahr wollten die reichhaltigen Sammlungen von Textilien, Skulpturen, lokalen und internationalen Impressionisten, Keramikkunst, aber auch das prachtvoll renovierte Schwimmbad selbst bestaunen, das zwischen 2016 und 2018 schließlich aufs Neue umgebaut und erweitert wurde.
Bald nach dem Schwimmbad erwachte auch die Condition publique zu neuem Leben: 2004 war die Metropolregion von Lille europäische Kulturhauptstadt, die verfügbaren Mittel reichten auch für einen Neubeginn des Wollpalastes als Kulturzentrum. Architekt Patrick Bouchain plante die Renovierung, auf 10.000 Quadratmetern Nutzfläche ist nun Platz für Filmstudios, Gemeinschaftswerkstätten, Künstlerateliers, einen Konzertsaal, Ausstellungssräume, ein Restaurant und einen Dachgarten.
Zahlreiche weitere ehemalige Industriegebäude in und um Roubaix werden mittlerweile neu genützt, wie die Ateliers Jouret mitten im Zentrum oder eine riesige Spinnerei, schlicht „La Manufacture“ genannt, die heute ein der Geschichte der Textilindustrie und den Lebensbedingungen der Arbeiterschaft gewidmetes Museum ist. Doch auch die Textiltradition ist noch am Leben: 450 Textilfabriken sorgen im Großraum Roubaix für immerhin 15.000 Arbeitsplätze. Man hat sich spezialisiert: In Roubaix werden heute Fasern für schusssichere Westen entwickelt oder solche für Formel-1-Pilotenmasken, die 1000 °C aushalten müssen, künstliche Sehnen und anderes Körpergewebe für die plastische Chirurgie, oder auch T-Shirts aus Fasern von Kaffee, Minze und Aloe Vera, die kühlen, anti-allergen sind, oder dank integriertem Jojoba-Öl zur schnelleren Sonnenbräune verhelfen.
Auffälliger als die Fabriken sind heute jedoch eindeutig zahlreiche Künstlerateliers, die die Stadt beleben. Das einstige „Manchester Nordfrankreichs“ hat sich zu „Brook’Lille“ gemausert und präsentiert sich als arm, aber sexy. Jung ist Roubaix obendrein: Fünfzig Prozent der Bevölkerung sind unter 29. Platz für die Kreativen, die der ehemaligen Industriestadt bei der Imagekorrektur helfen sollen, ist genug: „Die Bevölkerung von Roubaix ist seit dem zwanzigsten Jahrhundert geschrumpft. Wir haben mehr Freiraum als andere Städte, und wir haben großartige Gebäude – also stellen wir diese bewusst Künstlern und Start-ups zur Verfügung, die wenig Geld haben, aber Platz brauchen“, erklärt Constance Vasse-Krebs vom Fremdenverkehrsamt der Stadt. Selbst dieses ist so ganz anders als gewohnt: Das Inventar besteht aus Upcycling-Möbeln, wie auch der Souvenirshop. „Zero waste“ ist eine der Schienen, auf der die Stadt in eine neue Zukunft fahren möchte: Seit 2014 nehmen bereits 500 Familien aus Roubaix an einem Programm zur Reduktion des Hausmülls teil. Derzeit hält man bei einem Minus von immerhin 40 Prozent. Auch der Weihnachtsmarkt von Roubaix ist der bislang einzige Zero-Waste-Christkindlmarkt Frankreichs. In der Tourist-Info gibt es gratis Tretroller zum Ausleihen, und so kann man, immer einem blauen, den alten Glasur-Ziegeln nachempfundenen Strich entlang, klimaneutral in den verschiedenen Stadtteilen dem besonderen Geist nachspüren, der durch die von teils bröckelnden, teils durch Streetart in Szene gesetzten, teils frisch sanierten Backsteinfassaden der Gassen von Roubaix weht. Ob man sich nun rollend oder zu Fuß in Richtung der neu genützten alten Industrieviertel aufmacht – wenige Minuten genügen, um Flora, die kreative Journalistin der Condition Publique, vollauf zu verstehen, wenn sie erklärt: „In Roubaix spürt man eine ganz besondere Dynamik. Mir war sofort klar, dass es hier für mich genau passt.“
Meine Doppelbesprechung für den Falter-Bücherfrühling: Marion Messina und Inès Bayard.
Wie ein frisch defloriertes Mädchen“ fühlt sich Aurélie nach ihrer ersten Jus-Vorlesung. Kompliment ist das freilich keines, denn: „sie konnte es nicht fassen, dass etwas so lange Erträumtes so fade, unnütz und endlos sein konnte.“ Man ahnt es schon: Enttäuschungen erlebt Aurélie nicht nur im Hörsaal. Sie ist in der Vorstadt von Grenoble aufgewachsen, der Vater Arbeiter, die Mutter Putzfrau. Aurélie ist intelligent und neugierig, die Matura ein Spaziergang, jetzt will sie Diplomatin werden, Journalistin, irgendetwas Internationales, Sinnvolles. Doch der Debütroman der Französin Marion Messina, in dem Aurélie die Hauptrolle spielt, heißt nicht umsonst „Fehlstart“: An der Uni geht es um Formalismen statt um Inhalte, die Mitstudenten sind langweilige Konformisten, die Partys öde. „Die jungen Männer saßen an den Tischen, waren unfähig zu tanzen und konnten nur stumm saufen, weil der Lärm sie daran hinderte, mit ihren Unglücksgefährten zu reden.“ Mit schnoddriger Schonungslosigkeit und Sinn für die sicher sitzende Pointe zeichnet die Erzählerin in „Fehlstart“ ein denkbar tristes Bild der Lebenswelt, die französische Schulabgänger erwartet.
Auch außerhalb Frankreichs werden viele mitnicken: Dank Verschulung und Standardisierung ist auch im übrigen Europa alles, was sich nicht in Bewertungsraster pressen lässt, längst aus den Lehrplänen geflogen. Überzeugt, dass „ein großer Teil ihrer Jugendträume jetzt schon jeden Sinn verloren“ hat, flüchtet Aurélie in eine leidenschaftliche Beziehung mit Alejandro. Dieser gefällt sich in der Pose des exilierten lateinamerikanischen Intellektuellen, ist aber nur ein verwöhnter Fratz aus der Oberschicht von Bogotá, die es sich leisten kann, zum Studieren nach Europa zu gehen. Seine Devise: „Eine Frau lässt sich ersetzen, aber man lebt nur einmal“. Bald ist er weg und Aurélie setzt sich aus Verzweiflung in einen Zug nach Paris – ein denkbar hartes Pflaster für eine liebeskranke 19-Jährige aus der Provinz, die nicht weiß, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Schlecht für Aurélie, aber auch schlecht für den Roman. Heldin und Erzählerin haben „nicht die geringste Lust, Paris zu erobern“, und ergehen sich dort in banalem Gesudere über „internationale Ladenketten, groteske Musicals – immer dieselben seit zehn Jahren in allen westlichen Großstädten -, klassische Konzerte mit Warteschleifenmusik, Selfis (sic) an einst heiligen Stätten.“
Besser als die Zivilisationskritik geht Messinas Erzählerin der Spott über die pornoverseuchte Männerwelt von der Hand. Schließlich ist mit so einem Durchschnittsexemplar nicht viel anzufangen, da es im Regelfall von „einer Kleinmädchenmöse fantasierte, die durch eine perverse Umkehr der Werte zum absoluten Symbol der vollendeten, wenn auch allein der Lust des Mannes dienenden Sexualität geworden war“. Schade, doch für den Glauben ans Liebesglück ist Aurélie in ihren Pariser Monaten ohnehin zu tough geworden: „Der durch die körperliche Liebe erhöhte Endorphinausstoß reichte nicht aus, damit sie die Metro ertrug.“ Unklar ist, ob es sich beim letzten Satz des Romans um ein Happy End handelt. Er lautet – Achtung, Spoiler! -: „Sie war zwanzig Jahre alt.“
Derlei resignierte Abgebrühtheit ist Marie, der Hauptfigur in Inès Bayards Debüt „Scham“, völlig fremd. Aurélie nimmt den Zug zurück nach Grenoble, die gut zehn Jahre ältere Vermögensberaterin Marie radelt im coolen Pariser Osten zur Arbeit: „Während sie auf dem Boulevard du Temple in die Pedale tritt, wird ihr plötzlich bewusst, wie viel Glück sie doch hat, diese Frau zu sein. Sie liebt ihre Arbeit, lebt mit einem Mann zusammen, den sie vergöttert, ihr fehlt es an nichts, bald wird sie ihr erstes Kind bekommen.“ Marie hat gerade die Pille abgesetzt. Sich mit ihr auf die Babyzeit zu freuen ist jedoch keine Zeile lang möglich: Ihre Geschichte wird in einer langen Rückblende erzählt. Der Roman nimmt schon auf der ersten Seite sein Ende vorweg, an dem die junge Mutter ihr Kind, ihren Mann und sich selbst vergiftet.
Bereits nach wenigen Seiten ist es mit Maries Glück nämlich schon vorbei: Sie wird von ihrem Chef brutal vergewaltigt. Ihn anzuzeigen ist ihr unmöglich, würde ihre heile Welt doch vor aller Augen in Brüche gehen. Sie will weder in der Öffentlichkeit noch vor ihrem Mann Laurent als Opfer gesehen werden, als „die Frau, die vergewaltigt, die beim ersten Analsex von einem anderen Glied als seinem penetriert worden ist“. Peinigende Tage folgen dem Verbrechen, Sex mit dem arglosen Laurent fühlt sich an wie eine neuerliche Vergewaltigung, Gespräche mit den Freunden, die in die geplante Schwangerschaft eingeweiht sind und über nichts anderes mehr reden wollen, werden zur Qual. Doch noch glaubt Marie, dass sie in ihr altes Leben zurückfinden wird.
Sobald sie ihre Schwangerschaft bemerkt, wird auch diese Illusion zerstört: Marie ist davon überzeugt, dass das Kind von ihrem Vergewaltiger gezeugt wurde, muss sich jetzt aber ausgiebig feiern lassen. Die Champagnerkorken ploppen, anzügliche Witzchen und Schwangerschafts-Schwänke machen die Runde im Familien- und Freundeskreis, Alben mit alten Babyfotos werden durchstöbert. Marie lächelt tapfer und hofft, dass ihre Muttermilch ungenießbar sein wird. Um ihr Geheimnis zu bewahren, kann sie keine Nähe mehr zulassen. Sie beginnt alle zu hassen, die nicht fähig sind zu erraten, was sie doch mit aller Kraft vor ihnen versteckt. Die Geburt verläuft traumatisch, beim Anblick des bläulichen, schleimbedeckten Babys mit dem geschwollenen Penis empfindet sie blanken Ekel. „Marie wird es nicht ertragen, Thomas aufwachsen zu sehen.“
Präzise und sparsam erzählt, auf unerbittliche Weise elegant und leichtfüßig eilt die Geschichte dem bereits bekannten Ende entgegen, und doch kann man dieses Buch weder auf die Seite legen noch in einem Zug durchlesen. Neben mitleidlos ausgeleuchteten, kaum zu ertragenden Szenen, die das Leid der seelisch zerstörten Mutter und deren teilnahmslose Kälte gegenüber ihrem Baby zeigen, sind es quälende Fragen, die einen immer wieder absetzen lassen. Denn natürlich gibt es Momente, an denen der richtige Satz alles verändert hätte. Oder doch nicht? Wann ist es richtig nachzufragen, wann wird die Frage selbst zum Übergriff? Wie man es dreht und wendet: Natürlich ist Marie die Mörderin. Doch keine der beteiligten Figuren wird sich in Inès Bayards zutiefst verstörendem Roman am Ende schuldlos fühlen können – nicht einmal der Leser.
Georg Renöckl in FALTER 11/2020 vom 13.03.2020 (S. 22)
Für die „Presse“ war ich auf den nordfranzösischen Schauplätzen des mit drei Oscars ausgezeichneten Films:
20.02.2020 um 18:44von Georg Renöckl
Die Geschichte hinter dem oscar-prämierten Film „1917“ versteht man am besten an den Originalschauplätzen. Im Nordwesten Frankreichs erinnert vieles an den Ersten Weltkrieg.
Das Weltkriegsdrama als Reiseempfehlung? Durchaus. Der nordfranzösische Kriegsschauplatz, dessen Verwüstung Sam Mendes in „1917“ so eindrucksvoll in Szene setzt, zieht Jahr für Jahr Zehntausende Touristen an. Vor allem Reisegruppen aus Großbritannien und dem Commonwealth, die sich für die einstigen Schlachtfelder an der Somme und bei Arras interessieren, auf denen ihre Vorfahren kämpften, litten und zu Tausenden begraben liegen. Doch nicht nur für die Nachfahren der Soldaten ist die Reise an die Schauplätze der europäischen Urkatastrophe lohnend. Sie vermittelt eine Ahnung der Leistung hinter der europäischen Einigung und führt durch ein historisch interessantes, landschaftlich und kulturell reichhaltiges, trotz der Schlachtfeld-Bummler noch nicht überlaufenes Gebiet.
Ziemlich genau in der Mitte der heute Hauts-de-France genannten Region verläuft die ehemalige Frontlinie in Nord-Süd-Richtung. Von Paris aus beginnt man die Reise am besten in umgekehrt chronologischer Reihenfolge: Auf einer Lichtung unweit von Compiègne endete mit der Unterzeichnung der Waffenstillstandsurkunde am 11. November 1918 der Krieg. Das kleine Museum am Rand der Lichtung wurde 2018 auf neuesten Stand gebracht und führt seither mustergültig vor Augen, wie eine nicht mehr nationale, sondern europäische Perspektive auf die Ereignisse von damals aussehen kann.
Nur wenige Kilometer weiter westlich liegt der Chemin des Dames, eine Hügelkette von evidenter strategischer Bedeutung. Die deutschen Truppen besetzten sie im Herbst 1914 und bauten sie zu einer Festung aus, die später Teil der Siegfriedstellung wurde. Auf diese auch Hindenburglinie genannte Verteidigungslinie einige Kilometer hinter der eigentlichen Front zogen sich die deutschen Armeen angesichts einer bevorstehenden alliierten Offensive im Frühjahr 1917 zurück. Der Chemin des Dames war einer ihrer stärksten Punkte, was den französischen Oberkommandierenden Robert Nivelle im April 1917 nicht daran hinderte, hier den entscheidenden Durchbruch zu versuchen – eine der mörderischsten Schlachten und Aufstände in der französischen Armee war die Folge.
Soldatenfriedhöfe drücken der Landschaft heute einen melancholischen Stempel auf, die Straße oben am Kamm ist von Denkmälern gesäumt. Das stimmigste davon ist ein Ensemble verkohlter Baumstämme namens Constellation de la douleur (Sternbild des Schmerzes). Es ist den subsaharischen Soldaten gewidmet, die in den Schneestürmen des April 1917 die vordersten Linien der französischen Angriffswelle bilden mussten und zu Tausenden im deutschen Maschinengewehrfeuer umkamen. Das Mahnmal befindet sich direkt neben einem damals heiß umkämpften, Drachenhöhle genannten Steinbruch, der heute ein empfehlenswertes Museum beherbergt. Es zeigt sowohl das Leben und Leiden der hier kämpfenden Soldaten als auch die Auswirkungen des Kriegs auf die Region: Erst in den 1970ern erreichte diese wieder ihre Einwohnerzahl von 1914. Einer der Gründe für die Entvölkerung war die Strategie der verbrannten Erde, die den deutschen Rückzug auf die Siegfriedstellung begleitete und es nachstoßenden Alliierten unmöglich machen sollte, im geräumten Gebiet Deckung zu finden – auch das zeigt der Film „1917“ in drastischen Bildern. Ein Symbol für die Zerstörungswut, die unzählige Kulturdenkmäler vernichtete, ist heute die Burg von Coucy. Mit einem Durchmesser von 31 und einer Höhe von 54 Metern übertraf ihr im 13. Jahrhundert erbauter Bergfried den des Louvre weit. Eine deutsche Sprengladung ließ vom größten Burgturm des Mittelalters nur einen nach wie vor beeindruckenden Haufen Steine übrig.
Unweit der im Weltkrieg völlig zerstörten, als Art-déco-Metropole wiederauferstandenen alten Handels- und Textilstadt Saint-Quentin entspringt die Somme, deren gallischer Name, Samara, so viel wie „friedlicher Fluss“ bedeutet. 1916 rollte jedoch eine beispiellose Welle der Gewalt über die sanft gewellte Landschaft, in deren Mitte der Fluss in Schlingen in Richtung Ärmelkanal fließt. Das Startsignal gab ein gewaltiger Knall: 28 Tonnen Sprengstoff, direkt unter den vordersten deutschen Linien in der Nähe von La Boisselle deponiert, schleuderten das Erdreich am Morgen des 1. Juli 1916 1300 Meter hoch. Außer einer Million Toter und Verwundeter brachte die Schlacht aber kaum Veränderungen. Der Krater der Explosion existiert noch heute: Ein britischer Soldat kaufte das Grundstück und machte es zur Gedenkstätte.
Ganz in der Nähe befindet sich mit dem Ehrenbogen von Thiepval das größte britische Mahnmal der Welt. Es ist aus zehn Millionen Backsteinen erbaut und den 72.000 gefallenen Soldaten gewidmet, die nicht in einem eigenen Grab bestattet werden konnten. Doch besser noch als die zahllosen steinernen Monumente, an denen man der alten Front entlang unweigerlich vorbeikommt, vermitteln die vom Krieg geformten Landschaften eine Ahnung vom Grauen. Etwa beim südafrikanischen Memorial von Longueval. 3200 Südafrikaner mussten dort im Juli 1916 fünf Tage unter schwerem Artilleriefeuer im Delville-Wald ausharren, sie nannten ihn Devil-Wood. Hinter der Gedenkstätte steht ein alter Baum, an dem Medaillen hängen: Es handelt sich um den einzigen Baum, der noch aufrecht stand, als die Überlebenden den „Wald“ räumen durften. Der ist längst wieder aufgeforstet, doch zum Spazierengehen eignet er sich nicht: Es gibt dort keinen ebenen Fleck, Trichter reiht sich an Trichter. Die Überreste Hunderter Soldaten konnten nie geborgen werden, der Wald ist ihr Friedhof.
Wieder etwas weiter im Norden liegt einer der „1917“-Filmschauplätze: der Ort Écoust-Saint-Mein, der während der Schlacht von Arras zu weiten Teilen zerstört wurde. An diese erinnert in Arras der Wellington-Steinbruch: Die mittelalterlichen Steinbrüche, die einst das Baumaterial für Bürgerhäuser geliefert hatten, wurden 1917 von neuseeländischen Bergleuten in monatelanger Schwerarbeit erweitert, sodass 24.000 Soldaten unbemerkt von den Deutschen an die Front herangeführt werden konnten. Die Überraschung gelang. Nach einer Ostermesse stürmten Australier, Briten und Neuseeländer am 9. April 1917 um 5 Uhr 30 unmittelbar vor den deutschen Stellungen ins Freie. Doch nach anfänglichen Erfolgen blieb die britische Offensive stecken.
Nördlich der Stadt erinnert ein weithin sichtbares Denkmal an die Eroberung des Hügels von Vimy durch die Kanadier, ein wichtiger Moment im kollektiven Gedächtnis des Landes. Auf dem Weg dorthin, in Neuville-Saint-Vaast, sollte man unbedingt auch dieses Denkmal besuchen: Es sieht aus wie ein Münzfernrohr, ist aber eine fix installierte Virtual-Reality-Brille namens Timescope. Neuville-Saint-Vaast war einer der Orte, an denen es zu spontanen Verbrüderungen zwischen den Kriegsgegnern kam. Starkregen trieb im Dezember 1915 die Soldaten beider Seiten aus den überschwemmten Gräben. „Franzosen und Deutsche sahen einander an, sahen, dass sie genau die gleichen Menschen waren. Sie lächelten sich zu, man wechselte ein paar Worte. Hände wurde ausgestreckt und gedrückt, man teilte Tabak, Saft und Wein“, erinnert sich der französische Korporal Louis Barthas in seinen Kriegstagebüchern an die „Verbrüderung zwischen Männern, die die gleiche Abscheu vor dem Krieg empfanden und die man doch dazu zwang, sich gegenseitig umzubringen“. Er wünschte sich eine Erinnerung nicht nur an die Toten, sondern auch an die Verbrüderung, die von französischem Artilleriefeuer beendet wurde. Nach 100 Jahren war man so weit.
Nur kurz zuvor, am 11. November 2014, wurde am Rand der nahen Nekropole von Notre-Dame-de-Lorette ein weiteres Denkmal eingeweiht. Ein Betonring von 300 Metern Umfang, entworfen vom Pariser Architekten Philippe Prost, liegt heute neben dem riesigen Soldatenfriedhof und ragt teilweise weit über den Abhang hinaus. Metalltafeln mit den Namen von 580.000 auf den Schlachtfeldern Nordfrankreichs Getöteten sind an der Innenseite des Rings angebracht, den man lesend umrunden kann. Es ist das schönste und würdevollste aller Weltkriegsdenkmäler: Kein tieferer Sinn oder höherer Zweck ihres Sterbens wird den Toten im Nachhinein aufgezwungen, kein Vaterland beschworen, kein Dienstgrad, keine Religion, keine Nationalität verstellen die Sicht auf den Menschen. Name für Name ist graviert, ohne Unterscheidung. Gleiche Namen werden so oft wiederholt, wie Menschen dieses Namens umgekommen sind. So geht man vorbei an Smiths und Schmidts, Taylors und Schneiders, Bruckners und Duponts – am Ende einer langen Fahrt ist das der richtige Ort, um darüber nachzudenken, was ohne die sinnlosen Massaker, die eine ganze Generation vernichteten, aus der Welt hätte werden können.
Schauplätze: Lichtung von Rethondes: in Compiègne
Drachenhöhle: Chemin des Dames in Oulches-la-Vallée
Ruinen von Coucy: in Coucy-le-Château-Auffrique
Longueval: den Wegweisern folgen Wellington-Steinbruch: in Arras
Timescope/Verbrüderungsdenkmal: in Neuville-Saint-Vaast
Ring der Erinnerung: in Ablain-Saint-Nazaire
Lochnagar-Krater: in 80300 Ovillers-la-Boisselle. Im Old Blighty Tearoom gleich nebenan serviert Alison Haslock Tee und britische Snacks, ihr Mann, Jon, führt als Battlefield Guide Interessierte über Kriegsschauplätze der Umgebung.
Filmtipp: „1917“, Kriegsfilm von Sam Mendes, vielfach ausgezeichnet, u.a. zwei Golden Globes, drei Oscars
Buchtipp: Der Autor Georg Renöckl besuchte „111 Orte in Nordfrankreich, die man gesehen haben muss“, Emons Verlag, 17,50 Euro
Wird alle paar Jahre neu aufgelegt, ein ewiger Geheimtipp: Dino Buzzatis „Tatarenwüste“ – meine Besprechung gibt es hier zu hören auf Ex Libris.
Etwas Zeitloseres habe ich noch nie geschrieben: Bei seinem Erscheinen im Falter war der Artikel schon ein Jahr alt, stimmte immer noch, und das wird wohl noch länger so bleiben…
Wie man in Wien mit Unbekannten ins Gespräch kommt? „Das ist ganz einfach“, erklärt Thomas Schäfer-Elmayer, Wiens oberste Instanz für Zwischenmenschliches aller Art. „Sie stellen sich an eine Bushaltestelle und beginnen über die Wiener Linien zu schimpfen. Und schon schimpfen alle mit.“ Nichts verbinde die Wiener so sehr wie das kollektive Matschkern und Raunzen -der typische Wiener Grant eben. Die Mitglieder der Expat-Plattform InterNations.org, die Wien wie im Vorjahr wieder zu einer der unfreundlichsten Städte der Welt gewählt haben, beweisen also einen hohen Grad an Integrationsbereitschaft, frei nach dem Banksy-Spruch: „The grumpier you are, the more assholes you meet.“
Nun, immerhin verschlechterte sich Wien in der Spezialdisziplin „Unfreundlichkeit der Einwohner gegenüber ausländischen Mitbürgern“, in der Österreichs Hauptstadt voriges Jahr sogar den Weltmeistertitel abräumte, um sechs Plätze und landete hinter Charme-Metropolen wie Stuttgart oder Riad nur auf Rang sieben der weltweit unfreundlichsten Städte. In der Kategorie „Unfreundlichkeit der Einheimischen im Allgemeinen“ reicht es nur für Rang neun. Und natürlich kann man die Repräsentativität der Umfrage anzweifeln: Von den laut Betreibern 30.000 auf der Plattform angemeldeten Wiener Expats füllten nur etwa zweihundert den entsprechenden Fragebogen aus.
Dem gelernten Wien-Menschen ist dennoch klar: Ganz daneben liegen die matschkernden Expats wohl nicht. Vom „Nieselregen einer chronisch schlechten Laune“ sei das Wiener Gemüt getrübt, schreibt Gerhard Roth als einer von zahllosen Literaten, die sich seit Generationen an den Untiefen der Wiener Seele abarbeiten. Man muss aber längst nicht so tief schürfen wie einst Hilde Spiel, die sich in den „unterirdischen Kanälen und Katakomben, in denen das Böse und Brutale braut“, auf die Suche nach dem Ursprung der wienerischen „Dämonie der Gemütlichkeit“ machte. Es genügt, sich ein bisschen im Bekanntenkreis umzuhören. Etwa, was Eltern von Mitschülern der Kinder, die einen irgendwie fremdländischen Teint oder Akzent haben, im Alltag so zu hören bekommen. Und doch beteuern viele auf Zeit oder auf Dauer Zugewanderte, wie sehr sie die Stadt trotzdem lieben, und sind auch in diesem Punkt nicht von den hier Aufgewachsenen zu unterscheiden.
Der aus Deutschland stammenden Journalistin Maria von Usslar, die seit dem Studium in Wien lebt, vertraute ein Fiakerkutscher treuherzig an, er sei bewusst unfreundlich zu Deutschen, „weil die erwarten das so“. Eine längst heimisch gewordene Amerikanerin bemüht sich, es richtig zu finden, dass ihre Kinder von Unbekannten in der Straßenbahn schroff zurechtgewiesen werden. „Die Kinder sollen ja Manieren lernen.“
Schwerer zu überwinden ist für viele Westeuropäer die Beklemmung, die sie empfinden, wenn sie beim Überqueren einer Straße bei Rot von an der Gehsteigkante strammstehenden Einheimischen durch vernichtende Blicke oder auch verbal gemaßregelt werden. Woanders sieht man das nicht so eng, doch in Wien schätzt man Regelverstöße nicht, wenn sie allzu offensichtlich stattfinden. „Locker ist es hier nicht immer“, fasst es Dardis McNamee zusammen, die Chefredakteurin des englischsprachigen Wiener Stadtmagazins Metropole. Dabei liebt sie die oft bösartig-spöttische Wiener Ironie, die sie an New York erinnert, und schwärmt über eine Stadt, die es Expats im Alltag eigentlich leicht macht. Halte man sich an drei Regeln, ecke man kaum an: Pünktlich sein, sich ausführlich entschuldigen und umständlich bedanken. Dann funktioniere alles wie am Schnürchen, nur der Umgangston bleibe oft grob. „Man muss schon auch eine dicke Haut entwickeln.“
Dass man sich in Wien als „Fremder“ nicht gleich umarmt fühlt, bestätigt Eugene Quinn, der mit seinen „Vienna ugly tours“ stadtbekannt geworden ist. Er hat seine Berufung darin gefunden, die unsichtbaren Grenzen zu verwischen, die Einheimische und Touristen oft voneinander trennen. Bei sogenannten „Vienna Coffeehouse Conversations“ lässt er Wiener und Gäste gemeinsam ein von Marcel Proust inspiriertes Fragemenü abarbeiten.
Wiener tun sich schwer mit dem Small Talk, weiß Quinn. Eine gewisse Gehemmtheit sei oft spürbar, ein Unwohlsein im Umgang mit Fremden sowie die Angst, aufzufallen. „Die Stadt ist voll mit Zuschauern, aber es fehlt an Darstellern.“ Immer wieder muss Eugene für seine Wahlheimat in die Bresche springen: Touristen mit dunkler Hautfarbe glauben manchmal, Opfer von Rassismus geworden zu sein -dabei war es doch nur der ganz normale Wiener Grant, mit dem sie bedient wurden (oder eben nicht).
„Vieles hat sich in Wien in den letzten Jahrzehnten zum Positiven verändert“, meint dazu Thomas Schäfer-Elmayer, „nur die Servicequalität nicht immer.“ Er sieht die Expats-Umfrage als sportliche Herausforderung. Es sei wichtig zu wissen, woran man arbeiten muss, schließlich gelte: „Gute Laune gehört zum guten Benehmen.“
Was aber tun, wenn einem die schlechte Laune anderer die eigene verdirbt? Dardis McNamee hat eine -ebenfalls urwienerische -Wunderwaffe dagegen entdeckt: die Maschekseite, wie man in bester kakanischer Tradition einen Weg nennt, der zwar wortwörtlich „von hinten“, dafür aber womöglich verlässlicher ans Ziel führt als die direkte Konfrontation. „Man muss indirekt sein und dem Gegenüber einen Ausweg lassen“, erklärt McNamee. Das funktioniere sogar bei notorisch grantigen Kaffeehaus-Kellnern.
Als sie von einem solchen einmal eine geschlagene halbe Stunde lang ignoriert wurde, ging sie an die Schank, entschuldigte sich höflich und versicherte dem Herrn Ober ausführlich ihr vollstes Verständnis angesichts seiner stressigen Lage. Ob es ihm etwas ausmache, wenn sie -wo sie nun schon einmal hier sei -dennoch gleich einen Kaffee bei ihm bestelle und diesen dafür selbst mit an den Tisch nehme? Die Reaktion: „Er ist geschmolzen.“ Die Wahlwienerin hat nicht nur ihren Kaffee bekommen, sondern auch ein Klischee enttarnt: Der legendäre Wiener Grant, er ist doch nur ein stummer Schrei nach Liebe.
Das hat für etwas Verwirrung im Standard-Forum gesorgt: Anne Hidalgo weiß als international gut vernetzte Pariser Bürgermeisterin, dass Frauen weltweit jahrzehntelang mit Umwelt-Ressorts versorgt und dadurch von „wichtigeren“ Aufgaben ferngehalten wurden. Sie hat daher ein Netzwerk gegründet, in dem diese erfahrenen Frauen ihr Wissen an jüngere weitergeben können. Was daran sexistisch sein sollte, erschließt sich mir nicht, aber trotzdem hier noch einmal ganz deutlich: Das heißt nicht, dass Männer die schlechteren oder Frauen die besseren Menschen sind…
Lange wurden Frauen in der Politik mit den scheinbar nebensächlichen Umweltagenden abgespeist. Heute haben mehr Großstädte denn je Frauen an der Spitze. Gut für das Klima
Frauen sind die ersten Opfer des Klimawandels. Die Welt geht schließlich nicht in einem großen Knall unter, sondern schön der Reihe nach: Zuerst sind diejenigen dran, die zwar am wenigsten für die Überhitzung des Planeten verantwortlich sind, sich aber auch am schlechtesten gegen ihre Folgen wehren können.
In den Ländern des globalen Südens, denen jetzt schon das Wasser bis zum Hals steht, sind Frauen ganz unten auf der sozioökonomischen Statusleiter zu finden. Sie sind ärmer, haben einen schlechteren Zugang zu Bildung und zu materiellen Ressourcen und leiden daher ungleich stärker unter den zunehmend menschengemachten Naturkatastrophen als Männer.
Es sind aber auch die Frauen, die weltweit die Proteste für den Klimaschutz anführen: sehr junge wie Greta Thunberg, aber auch ältere wie US-Ikone Jane Fonda. Letztere lenkt durch ihre regelmäßigen Verhaftungen wegen illegaler Demonstrationen die Aufmerksamkeit auf die fehlende Klimagerechtigkeit. Auch Alexandria Ocasio-Cortez, die so brillante wie toughe Zukunftshoffnung der US-Demokraten und jüngste Abgeordnete des Repräsentantenhauses, zählt zu den prominenten weiblichen Gesichtern der Klimabewegung. Im Oktober hielt die 30-Jährige eine bewegende Abschlussrede beim Treffen des Netzwerks C40 Climate Leadership Group, einem Zusammenschluss von Weltmetropolen im Kampf gegen die Klimakrise.
Nicht nur die Schlussrednerin bei diesem Treffen der mächtigsten Bürgermeister der Welt, die für mehr als 700 Millionen Menschen und ein Viertel des weltweiten BIP stehen, war eine Frau: Auch das einflussreiche Netzwerk selbst, das unabhängig von den oft träge und erratisch agierenden Nationalstaaten an rasch umsetzbaren Klimalösungen arbeitet, wird immer weiblicher. Seit 2016 ist die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo Präsidentin des Städtenetzwerks. Zu Beginn ihrer Präsidentschaft hatten nur vier C40-Städte eine Frau als Bürgermeisterin. Heute sind es 21, darunter Paris, Tokio, Washington, Freetown, Mexiko-Stadt, Barcelona, Sydney, Melbourne und seit kurzem auch Bogotá.
Der wachsende Einfluss von Frauen macht sich aber nicht nur in der ersten Reihe in den Städten bemerkbar. Jahrzehntelang wurden Frauen in der Politik weltweit mit den scheinbar nebensächlichen Umweltschutzagenden betraut; oft, um sie von entscheidenden Ressorts fernzuhalten. Heute verfügen diese Frauen über einen Wissensvorsprung in der zentralen Zukunftsfrage der Menschheit.
Anne Hidalgo, die als Frau und Migrantin die Sackgassen auf dem Weg nach oben kennt, gründete ein Netzwerk im Netzwerk, die Initiative Women4Climate. Politikerinnen, Wissenschafterinnen, Unternehmerinnen und Studentinnen arbeiten darin weltweit in hunderten Mentorship- und Forschungsprojekten zusammen, um das von Frauen erarbeitete Wissen zu bündeln und weiterzugeben.
Junge und erfahrene Forscherinnen und Unternehmerinnen entwickeln im Rahmen des C40-Netzwerks gemeinsam nachhaltige Lösungen in Bereichen wie Stadtplanung, Modeindustrie, Lebensmitteltechnologie oder Solarenergie, sie arbeiten an einer plastikfreien Gesellschaft, an leistbaren Passivhäusern aus Fertigteilen, biologischen Verpackungsmaterialien oder an effizienten Begrünungsmaßnahmen mit lokalen Pflanzen. Sie leben und arbeiten in Tel Aviv, Sidney, Paris, Addis Abeba, London, Quito, Vancouver oder Aix-en-Provence.
Isoliert betrachtet mag es sich dabei um hunderte kleine Maßnahmen mit lokaler Wirkung handeln. Doch dank des weltweiten Netzwerks bleiben sie nicht isoliert. Die Zusammenschau zeigt: Frauen sind nicht mehr „nur“ die Opfer oder diejenigen, die sich um ihre Familien oder um das Aufräumen nach der Katastrophe kümmern. Sie stellen nicht mehr „nur“ die Mehrheit der Protestierenden bei Fridays for Future oder bei Klimastreiks. Immer häufiger sind sie es, die eine faszinierende und vor allem inspirierende Landkarte möglicher und gangbarer Wege aus der hausgemachten Katastrophe vorgeben. (Georg Renöckl, 12.11.2019)
Noch einmal genauer für die Süddeutsche Zeitung recherchiert: Die neuen Pariser Gemüseplantagen. Und das ist erst der Anfang…
Paris wächst: In großem Stil und mit städtischer Förderung entstehen auf vielen Dächern Nutzgärten. Man kann sie besichtigen und dann die Ernte in den Restaurants darunter verkosten
Hinter einer Wand aus Rosmarin wuchern die Kamine und Türmchen auf dem Dach des Rathauses in den Himmel. Zwischen Himbeerranken sticht die Juli-Säule an der Bastille aus dem Dunst über der Hauptstadt. Durch eine Lücke zwischen Salbei und Thymian leuchtet bunt das Röhren-Wirrwarr des Centre Pompidou. Wie eine grüne Insel liegt der üppig wuchernde Garten im Schiefermeer der Pariser Dachlandschaft. Das Hupen und Dröhnen, das irgendwo da unten vorbeibrandet, scheint unendlich weit weg zu sein.
Regelmäßig führt Marie Dehaene Einheimische und Touristen über ihren Arbeitsplatz. „Man muss allerdings wetterfest sein und früh aufstehen können“, hebt die junge Agrarwissenschaftlerin beinahe entschuldigend einen kleinen Nachteil ihres Jobs hervor, wohl um den Neid der Besucher nicht übermächtig werden zu lassen. Wir befinden uns auf dem Dach des „Bazarde l’Hôtel de Ville“ (BHV), eines Traditionskaufhauses im Herzen von Paris, unmittelbar neben dem Rathaus. Die gut 500 Quadratmeter Dachfläche sind an ein Startup mit dem Namen „Sous les fraises“ („Unter den Erdbeeren“) vermietet, das ursprünglich aus Grenoble stammt und 2014 begann, Wurzeln auf Pariser Kaufhausdächern zu schlagen.
Es handelt sich dabei nicht einfach um eine nett anzusehende Behübschungsmaßnahme. Dank vertikaler Beete aus Hanfgeflecht und Erde mit integriertem Bewässerungssystem verdreifacht sich der verfügbare Platz. Auf dem Dach des BHV entstehen auf diese Weise 1400 Quadratmeter Nutzfläche, auf der 22.000 Pflanzen wachsen. Allein sechs Tonnen Tomaten ernten die Gärtner pro Saison auf dem eleganten Warenhaus, bei fantastischem Rundblick über die Stadt.
„Die Transformation der Stadt beginnt auf dem Teller“, erklärt Yohan Hubert, der Gründer von Sous les fraises, die Idee hinter seinem Start-up. In Frankreich geht nicht nur die Liebe durch den Magen, sondern auch die Entwicklung der Millionenstadt. Die Küchenchefs von 70 Pariser Restaurants, vom gehypten Newcomer Mokonuts bis zum edlen Drei-Sterne-Lokal Astrance, kaufen heute Gemüse, Beeren, Kräuter und Salate, die in mittlerweile 18 Dachfarmen unter dem Himmel von Paris gezogen werden. Nicht nur Köche zählen zum Kundenkreis: Die Pariser Brasserie de l’Être braute im vergangenen Jahr 10.000 Flaschen Bier aus dem Pariser Dachhopfen, eine Destillerie aromatisiert Gin mit Kräutern vom Dach des BHV. Bis zu 800 kg Honig sammelt Imker Gaël Cartron proSaison in 14 über die Pariser Dächer verteilten Bienenstöcken. Auch die Konfitürenmarke Confiture Parisienne und der beliebte Eissalon Une glace à Paris legen Wert auf Zutaten, wie sie lokaler und vor allem frischer kaum sein könnten.
„Uns ist klar, dass wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind, als Teil einer Sache, die viel größer ist als wir“, sagt Hubert. „Wir sind aber keine Revolutionäre, sondern glauben einfach daran, dass sich die Konsumgewohnheiten gerade ändern.“ Sous les fraises ist nach langen Jahren der Entwicklung mittlerweile wirtschaftlich erfolgreich. Eine wichtige Starthilfe dabei war die Stadt, die durch Ausschreibungen des Programms „Réinventer Paris“ („Paris neu erfinden“) innovative Projekte förderte – über diese Schiene kam Sous les fraises aus Grenoble in die Hauptstadt.
2017 lancierte Bürgermeisterin Anne Hidalgo ein weiteres Projekt, um der Stadt einen nachhaltigen Stempel aufzudrücken: Unter dem Titel „Parisculteurs“ verpflichteten sich 74 Unternehmen und Institutionen dazu, binnen drei Jahren 100 Hektar Grünflächen in Paris zu schaffen, ein Drittel davon reserviert für die Lebensmittelproduktion. Diese findet nicht immer in luftigen Höhen statt: In einer alten Tiefgarage unter einem großen Wohnblock, in der vor wenigen Jahren noch Drogendealer und Prostituierte auf motorisierte Kundschaft warteten, flitzen heute täglich Dutzende Lastenräder ein und aus, die die Pariser Bio-Läden beliefern. Die Parkplatz-Markierungen sind noch sichtbar, doch sonst ist die Garage nicht wiederzuerkennen. Sie heißt nun La Caverne und ist Standort des Start-ups Cycloponics, das dort in der vergangenen Saison 25 Tonnen Pilze und 60 Tonnen Chicorée erntete, die kein Licht brauchen. „Für manche Gemüsesorten herrschen hier geradezu ideale Bedingungen. Die Temperatur ist konstant, und wir haben mit 9000 Quadratmetern ausreichend Platz“, erklärt Caverne-Mitbegründer Jean-Noël Gertz, ein freundlicher 30-Jähriger mit Vollbart und langen Haaren.
Das Parisculteurs- Programm geht mittlerweile ins dritte Jahr. Eine Hopfenplantage auf dem Dach der Bastille-Oper und zahlreiche Blumen-und Gemüsegärten auf den Dächern oder in den Innenhöfen von Schulen, Kindergärten oder Postämtern zählen zu den von der Stadt Paris stolz präsentierten Projekten, die den Grünanteil der dichtest besiedelten Stadt Europas spürbar erhöhen sollen.
Dafür sorgen aber auch die Pariser selbst: „Es gibt hier eine echte Dynamik, einen Wandel zu mehr Umweltbewusstsein in allen Bereichen, von der Bauwirtschaft bis zur Produktion von Lebensmitteln, und vor allem wirklich viele Menschen, die das ernst meinen“, so Yohan Hubert. Wer mit offenen Augen durch die Stadt geht, wird bestätigen: Zwischen Dach- und Tiefgeschoß sprießt und gedeiht es an allen Ecken und Enden. Tempo und Ausmaß, in dem Glashäuser, Nachbarschaftsgärten, Vertikal- und Dachfarmen aus dem Pariser Pflaster wachsen, wirken ambitionierter als andernorts.
Einer der Gründe dafür: Die fürs selbstgezogene Grün begeisterten Bürger bekommen in Paris auch die entsprechenden Mittel zur Verfügung gestellt, um ihre Projekte umzusetzen. 2014 führte Anne Hidalgo ein „partizipatives Budget“ ein. Etwa hundert Millionen Euro pro Jahr werden seither für Projekte vergeben, die jeder einreichen kann. Nach Überprüfung der Machbarkeit und einer Vorauswahl stimmen die Bewohner der Stadt darüber ab, was verwirklicht wird.
Seit Paris das im brasilianischen Porto Alegre entwickelte Modell als erste europäische Metropole im großen Maßstab anwendet, eröffnen in der französischen Hauptstadt laufend verpackungsfreie Läden, wird der öffentliche Raum durch Kunst verschönert, vor allem aber werden Gemüsebeete angelegt und Straßen begrünt. Die Partizipation verbessert nicht nur die Pariser Luft, sondern auch das soziale Klima: „Bereits der Planungsprozess verändert das Leben im Viertel, da sich viele Nachbarn dadurch erstkennenlernen“, erzählt Architektin Concetta Sangrigoli, die mit ihrem Stadtplanungsbüro Oikos gemeinsam mit 150 Anrainern ein Stück der alten Bahnlinie „Petite Ceinture“ in einen Garten verwandelt hat. Die 1934 stillgelegte Bahn umrundete einst die Hauptstadt und lag jahrzehntelang brach, ehe ihre Trasse seit wenigen Jahren stückweise der Öffentlichkeit zurückgegeben wird. Der neue Gemeinschaftsgarten liegt im migrantisch geprägten Épinettes-Viertel im Norden der Stadt. Der einst schmale, am abgesperrten Bahngelände entlang führende Park Jean-Paul Didier ist nun teilweise doppelt so breit wie zuvor, monatelang haben die Bewohner gemeinsam mit Bildhauern an Trockensteinmauern aus wiederverwendetem Baumaterial gebaut. „Die Menschen im Viertel legten aber auch besonderen Wert darauf, dass ein Teil der Wildnis als Lebensraum für Pflanzen und Tiere erhalten bleibt und der neue Stadtraum für Menschen jeden Alters benutzbar ist“, sagt Concetta Sangrigoli. Ein weiterer Nebeneffekt: „Es gibt kein Problem mit Vandalismus. Die Leute verbringen viel Zeit in ihrem Park und gehen sorgsam damit um.“
Der Garten auf dem Bahngleis führt zu einem Bahnhof, der vor wenigen Jahren zum Kulturzentrum Le Hasard Ludique umgebaut wurde, einem quirligen Ort mit ständig wechselnden Ausstellungen und Konzerten, einem bunten Kursprogramm von Kalligrafie bis Yoga sowie einem Restaurant, das bei Schönwetter seinen Gastgarten auf den alten Bahnsteigen öffnet, weit unterhalb des Straßenniveaus. Nur wenige Schritte hinter dem Kulturbahnhof liegt schon der nächste urbane Gemüsegarten: Es handelt sich um die Stadtfarm der „Recyclerie“, eines weiteren zum Restaurant transformierten Bahnhofs. Sie zeigt, wie fest das urbane Grün mittlerweile im Repertoire des Pariser Lifestyles verankert ist: Im stets vollen Restaurant stellen sich die Gäste, die gerade an die dreißig Euro für einen Bio-Brunch mit Getränken hingelegt haben, nach dem Bezahlen artig vor einer Tonne an, in die sie ihre Speisereste kippen. Diese wandern später in den eigenen Hühnerstall des Restaurants. Das Federvieh ist nicht etwa dazu bestimmt, eines Tages im Kochtopf zu landen, erklärt Kellnerin Paula mit Empörung in der Stimme, sondern: „Sie sind Teil unseres ökologischen Abfallkonzepts.“ Zwanzig Hühner und Enten stellen sicher, dass kaum Küchenabfälle entsorgt werden müssen. Die Eier gehen per Abo-System an Stammgäste. Neben den Gleisen gibt es Kräutergärten, Bienenstöcke, Gemüsebeete, Obstbäume – alles in allem ein „Urban-Farming“-Gelände von insgesamt 1000 Quadratmetern, das mit einer sommers geöffneten Bar und einer Pétanque-Bahn auch gärtnerisch Unambitionierte anlockt. Und wieder wenige Meter weiter beginnt bereits der nächste, noch wilde Bahntrassen-Abschnitt, der im Rahmen der kommenden Parisculteurs-Saison zur Stadtfarm umgestaltet wird.
Auch nach dem Abschluss des Parisculteurs-Projekts wird sich die Stadt nicht auf ihren frischen grünen Lorbeeren ausruhen: Die größte Dachfarm der Welt mit 14000 Quadratmetern entsteht gerade im Süden der Stadt; eine Tonne Obst und Gemüse soll künftig pro Tag auf dem Messegebäude Paris Expo Porte de Versailles geerntet werden.
Geplanter Fertigstellungstermin ist im Frühjahr 2020.
Freilich wird sich eine Zwei-Millionen-Stadt wie Paris auch in Zukunft nicht ausschließlich von intra muros angebauten Lebensmitteln ernähren können. Doch die Transformation auf den Tellern, auf den Dächern und in allen verfügbaren Freiräumen der Stadt ist zweifelsohne bereits in vollem Gang. Für Dachgärtner Yohan Hubert steht zumindest für seine Branche fest: „Paris ist heute die inspirierendste Stadt derWelt.“
Informationen
Dachfarmen auf dem BHV und den Galeries Lafayette:
souslesfraises.com.
Anmeldung zur Besichtigung und zu Veranstaltungen:
visite.souslesfraises.com
Kulturzentrum und Restaurant Le Hasard Ludique:
lehasardludique.paris
Stadtfarm & Restaurant La Recyclerie:
larecyclerie.com
Chicoree- und Pilzzucht in der Tiefgarage:
lacaverne.co
Parisculteurs-Programm:
parisculteurs.paris/en